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So urteilt die Militärjustiz bei Sexualdelikten – 3 Beispiele

Es geschah im Offizierszimmer: So urteilt die Militärjustiz bei Sexualdelikten – 3 Fälle

Drei Urteile zeigen, wie die Militärjustiz gegen Sexualdelikte vorgeht. Dabei stellt sich eine heikle Frage: Ist es noch zeitgemäss, dass militärische Gerichte über solche Fälle entscheiden?
27.02.2023, 06:30
Andreas Maurer / ch media
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Der Frauenanteil in der Armee sollte 10 Prozent betragen. Dieses Ziel hat sich Verteidigungsministerin Viola Amherd gesetzt. Davon ist sie weit entfernt. Derzeit liegt er bei 0.9 Prozent.

Strammstehen im Rotkreuzdienst, der die Armee unterstützt.
Strammstehen im Rotkreuzdienst, der die Armee unterstützt.Bild: Nicola Pitaro / VBS

Abschreckend für Frauen wirken die Fälle von sexueller Belästigung, die regelmässig publik werden. Wie gross das Problem tatsächlich ist, lässt sich allerdings nicht beziffern. Eine Statistik wird nicht geführt. Bisher existieren nur Schätzungen. Die Militärjustiz wird jedes Jahr wegen etwa fünf mutmasslicher Sexualdelikte aktiv. Wie viele Schuldsprüche daraus resultieren, wird nicht erhoben.

Der Redaktion von CH Media liegen drei kürzlich ergangene Urteile der Militärjustiz vor. Sie geben einen Einblick in das Sexismusproblem der Schweizer Armee und zeigen, wie das Militär in solchen Fällen Recht spricht.

Fall 1: Ein Kompanieabend eskaliert

Die Stimmung am Kompanieabend der Train Kolonne 13/1 ist ausgelassen, der Alkohol fliesst. Diese Einheit der Armee arbeitet mit Pferden und Maultieren und ist deshalb attraktiv für Tierliebhaberinnen. Der Frauenanteil beträgt 25 Prozent.

Eine Soldatin im Tarnanzug trägt an diesem Abend einen Kameraden auf ihren Schultern. Mit ihren Händen hält sie seine Beine. Ein anderer Soldat kommt hinzu und nutzt die Situation aus, dass sie ihre Hände nicht loslassen kann. Er streckt seine Arme aus und greift ihr mit beiden Händen an die Brüste und drückt diese kurz.

Die Frau fühlt sich wehrlos und perplex, wie sie später aussagen wird. Zunächst habe sie den Vorfall zwar nicht als besonders schlimm wahrgenommen. Doch dann sei sie zum Schluss gekommen, dass sie sich das nicht gefallen lassen müsse.

Die Militärjustiz erledigt den Fall mit einem Strafmandat. Dabei erstellt der Auditor – so wird der militärische Staatsanwalt bezeichnet – einen Urteilsvorschlag, der rechtskräftig wird, wenn der Beschuldigte wie in diesem Fall keine Einsprache erhebt. Den Alkoholkonsum beider Beteiligter stuft der Auditor als leicht strafmindernd ein. Das Verschulden dürfe aber keinesfalls bagatellisiert werden, schreibt er. Es wiege mittelschwer. Er verpasst dem Soldat einen Denkzettel: eine Busse von 1000 Franken.

Die Militärjustiz: Ein Relikt aus alten Zeiten?

Die Militärjustiz ist eine Schweizer Besonderheit. In Deutschland und Österreich wurde sie abgeschafft. Hierzulande beurteilt diese militärische Strafverfolgungs- und Gerichtsbehörde vor allem Delikte, die während des Militärdienstes geschehen. Dafür gibt es ein eigenes Militärstrafgesetz und eine eigene Strafprozessordnung. Bestraft werden die gleichen Delikte wie im zivilen Leben. Hinzu kommen militärspezifische Bestimmungen wie zur Verschleuderung von Material oder zu fremdem Militärdienst.

Die Militärgerichte setzen sich jeweils aus fünf Personen zusammen: einem Präsidenten, der als Einziger ein Jurist sein muss, zwei Offizieren und zwei Unteroffizieren oder Angehörigen der Mannschaft. An Verhandlungen treten sie in Uniform auf.

Schon vor mehr als hundert Jahren forderte die SP die Abschaffung der Militärjustiz. Seither wird diese politische Forderung in regelmässigen Abständen neu lanciert. Doch die Kritik verpufft jeweils; die Tradition setzt sich durch. Ein Grund sind die Kosten: Die Militärjustiz ist relativ günstig, da sie im Milizsystem organisiert ist. Die normale Justiz hat kein Interesse, die militärischen Fälle zu übernehmen, da sie oft überlastet ist.

Fall 2: Zu viel Nähe im Corona-Assistenzdienst

Die Stabskompanie des Spitalbataillons 5 logiert während des Corona-Assistenzdienstes in einem Seminarhotel in Sursee. Es ist eine stressige Zeit für die Armeeangehörigen. Plötzlich müssen sie sich in einem Ernstfall bewähren.

Für eine Leutnantin eröffnet sich in dieser Zeit eine neue Perspektive. Der Kompaniekommandant, ein 31-jähriger Major, stellt ihr eine Beförderung in Aussicht. Im nächsten Jahr könne sie seine Stellvertreterin werden.

Doch er ist nicht nur an ihrer Fachkompetenz interessiert. Kurz vor Mitternacht betritt er ihr Zimmer. Ab hier gehen die Schilderungen des Vorfalls auseinander.

Sie sagt später aus, er habe ihr eine Rückenmassage angeboten. Er sei Masseur und wolle ihre Rückenschmerzen lindern. Sie habe dankend abgelehnt, doch er habe darauf bestanden. Sie habe das Gefühl gehabt, ein Nein könnte ihre Beförderung gefährden.

Also habe sie sich aufs Bett gelegt und er habe mit seiner Rückenmassage begonnen. Dabei seien seine Hände immer weiter nach unten geglitten und er habe ihr ans Gesäss gefasst. Sie habe ihm mitgeteilt, dass sie dies nicht wolle. Es gehe ihr nicht gut, sie wolle schlafen, sagte sie.

Doch er habe sich zu ihr ins Bett gelegt und seine Hand unter ihren Pullover geschoben, ihren Bauch gestreichelt und versucht, ihre Brüste zu berühren. Sie habe ihre Arme verschränkt, um ihn abzuwehren. Erst nach mehrmaliger Aufforderung habe er ihr Zimmer verlassen.

Der Major äussert sich in seiner Einvernahme geschockt über die Vorwürfe. Er gesteht nur einen Fehler ein. Er hätte als Vorgesetzter nicht alleine in ihr Zimmer gehen dürfen. Er habe aber nur versucht, ihr bei ihren Problemen zu helfen. Er habe sie nicht berührt.

Die Leutnantin wirft dem Major zudem noch einen zweiten ähnlichen Vorfall in der gleichen Woche vor. Während sie den ersten Fall stets gleich erzählt, verstrickt sie sich beim zweiten Fall in Widersprüche. Damit beschädigt sie ihre Glaubwürdigkeit.

Das Militärgericht 2 wird sich in der Urteilsberatung nicht einig. In der schriftlichen Urteilsbegründung hält es die Differenzen fest.

Für eine Minderheit des Gerichts bestehen «keinerlei Zweifel», dass sich der erste Vorfall genau so zugetragen hat, wie ihn die Leutnantin geschildert hat.

Die Mehrheit des Gerichts erkennt in ihren Erzählungen zwar ebenfalls Anzeichen, dass die Frau den Vorfall tatsächlich so erlebt haben könnte. Doch auch die Schilderungen des Majors stuft die Mehrheit als «plausibel, lebensnah und nachvollziehbar» ein. Deshalb fällt das Urteil im Zweifel für den Angeklagten aus: Freispruch.

Der Auditor geht in Berufung. Demnächst wird der Fall folglich vor der zweiten Instanz verhandelt, dem Militärappellationsgericht.

Die Militärgerichte: Urteilen Frauen anders als Männer?

Die Militärrichterinnen und -richter werden durch den Bundesrat bestimmt. Bis vor vier Jahren lag der Frauenanteil unter 5 Prozent. Bei den Gesamterneuerungswahlen 2019 stieg er auf 20 Prozent und bei Ersatzwahlen auf 33 Prozent. Das ist ein steiler Anstieg in kurzer Zeit. Das Verteidigungsdepartement hatte allen Frauen der Armee Briefe geschickt und sie zu Kandidaturen ermuntert.

Der Frauenanteil ist damit aber immer noch tiefer als bei kantonalen Gerichten, die auf einen Frauenanteil von durchschnittlich 40 Prozent kommen. An einigen zivilen Gerichten sind die Richterinnen inzwischen sogar in der Mehrheit, da immer mehr Frauen Recht studieren.

Das Militärrecht schreibt vor, dass Frauen bei Sexualdelikten verlangen können, dass eine Richterin im Gremium sitzt. Meistens werden diese Fälle von vier Männern und einer Quotenfrau beurteilt. Auch über den Vorfall im Corona-Assistenzdienst wurde in dieser Konstellation entschieden. Deshalb drängt sich eine Frage auf: Wäre das Urteil anders ausgefallen, wenn mehr Frauen im Gericht vertreten gewesen wären?

Recherchen führen zu einer Überraschung. Die einzige Militärrichterin stimmte in diesem Fall nämlich mit der Mehrheit und zog die Aussagen der Leutnantin somit in Zweifel. Die Minderheit, die ihr mehr Glauben schenkte als dem Major, war hingegen männlich. Das ist ein typisches Muster, wie an den Militärgerichten hinter vorgehaltener Hand erzählt wird. Richterinnen würden das Verhalten anderer Frauen tendenziell kritischer beurteilen als Richter.

Fall 3: Die Bettszene im Offizierszimmer

Ein Leutnant raucht vor der Kaserne in Moudon VS mit einer Soldatin eine Zigarette. Sie sprechen über das Offizierszimmer, das sie als Frau alleine belegt, damit sie ihre Privatsphäre gegenüber der männlichen Mannschaft hat. Sie bietet ihm an, das Zimmer zu zeigen. Dort angekommen, legt er seine Hände um ihre Hüften und gibt ihr einen Zungenkuss. Sie stösst ihn weg und fragt ihn, was er da mache: «What are you doing?»

Er wird später aussagen, er habe diese Frage ironisch wahrgenommen. Er zieht die Soldatin wieder zu sich und küsst sie wieder. Dabei schiebt er sie langsam Richtung Bett. Sie protestiert und sagt, sie habe ihm lediglich ihr Zimmer zeigen wollen. Doch er stösst sie aufs Bett, setzt sich auf ihre Schenkel und versucht ihren Gürtel zu öffnen.

Sie kreuzt die Beine, in Panik, wie sie aussagen wird, und sagt ihm, sie sei noch Jungfrau. Er erwidert, das sei nicht schlimm, sie sei es bald nicht mehr. Sie sagt: «Stop it!» Er lässt nun zwar ihren Gürtel in Ruhe, zieht ihr aber das T-Shirt hoch und leckt und knabbert an ihren Brustwarzen herum. In diesem Moment habe sie sich so schwach gefühlt wie noch nie in ihrem Leben, sagt sie später in der Einvernahme. Nach 20 Minuten oder mehr habe er gemerkt, dass sein Wachdienst beginne, und von ihr abgelassen.

Vor dem Militärgericht ist nicht umstritten, was geschehen ist, sondern ob es einvernehmlich geschehen ist. Er beteuert, sie habe es auch gewollt und seine Küsse erwidert. Er räumt aber ein, ihre Brüste geküsst und geleckt zu haben, obwohl sie vorher Nein gesagt hatte.

Die erste und die zweite Instanz verurteilen ihn wegen sexueller Nötigung. Er erhält eine bedingte Freiheitsstrafe von einem Jahr und soll degradiert werden. Im Urteil heisst es: «Einem Offizier, der solche elementare Grenzen gegenüber anderen Angehörigen der Armee missachtet, kann das Vertrauen nicht mehr entgegengebracht werden.» Der Beschuldigte erhebt Beschwerde. Derzeit ist der Fall vor der höchsten Instanz hängig, dem Militärkassationsgericht.

Das Fachgericht: Wo hat es wirklich Expertise?

Die Militärgerichte werden vor allem mit einem Argument legitimiert: Es sind Fachgerichte, die sich zum Beispiel mit dem militärischen Material und Waffen auskennen. Wenn kantonale Gerichte die Militärdelikte beurteilen würden, müssten sie öfter militärische Sachverständige beiziehen. Das wäre teurer.

Doch das Argument stimmt nicht für alle Fälle. Bei Sexualdelikten weisen die kantonalen Gerichte die grössere Expertise aus, da sie solche Fälle häufiger verhandeln und die Richterinnen und Richter die Besonderheiten des Sexualstrafrechts und der Aussageanalyse aus dem Studium kennen.

Noémie Roten war Lastwagenfahrerin in der Armee und ist heute als Ersatzrichterin an Militärgerichten tätig. Zudem ist sie Co-Präsidentin des Vereins Service Citoyen zur Förderung des Miliz-Engagements. Sie findet es richtig, dass Militärgerichte auch für Sexualdelikte zuständig sind. Denn sie würden die Kasernenperspektive kennen.

Noémie Roten im Dienst.
Noémie Roten im Dienst.Bild: zvg

In der Armee würden Gruppendynamiken herrschen, die man aus dem zivilen Alltag nicht kenne, erklärt sie. Als Frau befinde man sich plötzlich in einer 0.9-Prozent-Minderheit. Militärrichterinnen könnten diese spezielle Konstellation besonders gut beurteilen, da sie diese selber erlebt hätten. «Sie wissen, wie sich Frauen im Dienst verhalten und wie sich eine Frau fühlt, wenn sie sich abends in der Kaserne alleine unter lauter Männern bewegt», sagt Roten.

Natürlich wäre es deshalb gut, wenn es an den militärischen Gerichten mehr Durchmischung gäbe, meint die Richterin. Der Frauenanteil liege aber schon jetzt deutlich über dem Durchschnitt der Armee. Es müsse deshalb vor allem gelingen, mehr Frauen für die Rekrutenschule zu begeistern.

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Zwipf = Zwischenverpflegung
Küsche = Küchenchef/Koch
Arschloch-Barriere = Armeeschokolade

bild: watson/keystone
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79 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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duKeofHazard
27.02.2023 07:00registriert August 2020
Schwieriges Thema. Grundsätzlich wäre es wohl möglich, die Fälle zu übernehmen, tendenziell auch eher sinnvoll. Ich habe als Richter jedoch Mühe damit, dass mit diesem Artikel versucht wird, irgendwelche allgemeingültigen Aussagen aus 3 Einzelfällen zu ziehen. Aus denn hunderten bzw tausenden Fällen die ich bearbeitet habe, könnte ich ohne Probleme 3 herauspicken, um eine Aussage zu "beweisen", und 3 andere Fälle, die das Gegenteil nahelegen. Es ist schlicht nicht seriös, aus Stichproben auf ein Gesamtbild zu schliessen. Darum bin ich kein Freund von stichprobenbasiertem Journalismus.
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Spi
27.02.2023 09:23registriert März 2015
Hey, da haben wir einen Busengrabscher im allgemeinen Suff mit 1000.- Busse, einen vorläufigen Freispruch wegen widersprüchlichen Aussagen (in dubio pro reo) und 1 Jahr Knast bedingt für eine Nötigung (ohne Geschlechtsverkehr). Ich weiss nicht, ob diese vor zivilen Gerichten nicht milder davon gekommen wären.
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AlphaKevin
27.02.2023 07:01registriert Dezember 2018
Super Artikel!
Bin selbst am Militärgericht 2 tätig und bin sehr zufrieden mit dem Inhalt.
Allgemein, mehr Frauen im Dienst würde sicherlich helfen diese Denkmuster zu vermindern. Reine Männergruppen können sich aus meiner Sicht schnell in einer Dynamik verlieren.
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Das Emittenten-Ausfall-Rating für die langfristigen Verbindlichkeiten in Fremdwährungen (Foreign-Currency Issuer Default Rating, IDR) der Schweiz wurden mit 'AAA' und stabilem Ausblick bestätigt.

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