Geiselnahme im Zug, «Allahu akbar» an Schule: Herausforderung für Asylminister Beat Jans
Der Horror im Regionalzug
Der Horror dauerte etwa vier Stunden. So lange hielt ein Asylsuchender am vorletzten Donnerstagabend zwölf Passagiere und den Lokomotivführer in einem Regionalzug zwischen Baulmes und Yverdon in seiner Gewalt. Der 32-jährige Iraner war mit einer Axt, einem Hammer und einem Messer bewaffnet. Um 22.15 Uhr gelang es der Polizei, sich zwischen den Entführer und die Geiseln zu stellen. Beim Angriff auf die Beamten wurde er getötet. Die Staatsanwaltschaft untersucht die Umstände der tödlichen Schussabgabe und die Motive des Iraners.
Gemäss Recherchen von Westschweizer Medien litt der Mann an schweren psychischen Problem. Er stellte in Griechenland ein erstes Asylgesuch, durchquerte danach etwa ein halbes Dutzend europäische Länder und bat im August 2022 in der Schweiz um Schutz. Drei Monate später wurde er dem Kanton Genf zugewiesen.
Im April 2023 fand beim Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Anhörung statt. Der Mann machte nicht nur drohende Repressalien durch das iranische Regime geltend, sondern fühlte sich auch in der Schweiz verfolgt. Im Juni tauchte er unter, vermutlich nach Grossbritannien, bevor er sich im Januar dieses Jahres wieder im Bundesasylzentrum Boudry meldete.
Die Serie von Negativschlagzeilen mit Asylbewerbern
Das Drama im Regionalzug reiht sich ein in eine Serie von Negativschlagzeilen mit Asylbewerbern.
- Im letzten Dezember schreit ein algerischer Asylbewerber auf dem Pausenplatz bei der Primarschule Cortaillod (NE) «Allahu akbar». Das ist nicht nur eine Lobpreisung Gottes, sondern auch ein Schlachtruf von Islamisten. Der Schock ist gross. Der Anti-Amok-Alarm wird ausgelöst, mehr als 300 Kinder und Lehrpersonen bringen sich in Sicherheit. Die Polizei nimmt den Algerier fest. Es stellt sich heraus, dass er unter psychischen Problemen leidet und bereits in Deutschland ein Asylgesuch eingereicht hatte. Unterdessen wurde er im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens nach Deutschland ausgeschafft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Schreckung der Bevölkerung.
- Am letzten Montag greift ein 19-jähriger Asylsuchender aus Pakistan zwei Betreuerinnen in einem sozialpädagogischen Jugendheim im Kanton Zürich mit einem Messer an. Die beiden Frauen werden schwer verletzt ins Spital gebracht. Auslöser für den Zwist war gemäss «20 Minuten» ein Streit über den exzessiven Smartphone-Konsum des Pakistaners. Er befindet sich in Haft.
- Im letzten Herbst nimmt die Tessiner Polizei zwei algerische Asylbewerber fest. Ihnen wird vorgeworfen, frühmorgens in einem Zug ein minderjähriges Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Die beiden befinden sich in Untersuchungshaft, die Ermittlungen stehen laut Tessiner Kantonspolizei kurz vor Abschluss.
Hinzu kommen Klagen über viel Kleinkriminalität im Umfeld von Bundesasylzentren (BAZ). Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider begab sich deshalb letztes Jahr nach Boudry und Chiasso, um die Wogen zu glätten.
Der Fokus auf Beat Jans
Nach der Geiselnahme in Yverdon richtet sich der Fokus nun auf Beat Jans, Baume-Schneiders Nachfolger im Justizdepartement. Der Asylminister kündigte auf X an, das Staatssekretariat für Migration werde mit den betroffenen Kantonen die Hintergründe des Falls aufarbeiten und mögliche Konsequenzen prüfen.
Öffentlich Stellung nehmen müssen wird Jans schon in der Fragestunde der Frühlingssession im Parlament. Der Waadtländer SVP-Nationalrat Yvan Pahud verlangt Auskunft zur Geiselnahme. Pahud hat zudem eine Interpellation angekündigt. Er will etwa wissen, mit welchen Massnahmen der Bundesrat solche Vorkommnisse künftig verhindern wolle. Pahud verlangt eine Null-Toleranz-Strategie gegenüber Asylsuchenden, welche eine Gefahr für die Bevölkerung und die Asylbetreuerinnen und -betreuer darstellten.
Mehr Mittel zum Erkennen psychischer Probleme verlangt
Derweil hat Alain Ribaux (FDP), Neuenburger Regierungsrat und Vizepräsident der Konferenz der kantonalen Polizei- und Justizdirektoren, in der Tagesschau des Westschweizer Radio und Fernsehens RTS einen umfassenden Forderungskatalog präsentiert: Mehr Geld für die Sicherheit, tiefere Belegungszahlen in den Bundesasylzentren, mehr Mittel für das Erkennen von psychischen Problemen bei Asylsuchenden. Es ist bekannt, dass viele Asylsuchende in ihrem Heimatland und/oder während der Reise nach Europa traumatische Erfahrungen gemacht haben. Viele hegen auch Suizidgedanken.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sagt, es werde sämtliche Vorkommnisse im Asylbereich in seine Analysen einbeziehen. Wie es konkret auf die Geiselnahme reagieren wird, ist noch offen. Sprecher Reto Kormann nennt diverse bestehende Präventionsmassnahmen. So stehen in den Bundesasylzentren 130 Konfliktpräventionsbetreuer und 15 Seelsorger im Einsatz. Die Standortgemeinden unterstützt das SEM mit Aussenpatrouillen. Renitente Asylsuchende werden in das besondere Zentrum in Les Verrières verlegt.
Das SEM behandle das Thema der psychischen Gesundheit prioritär, sagt Kormann. Erkenne das Personal – es ist dafür geschult – in Bundesasylzentren psychische Auffälligkeiten, würden rasch Abklärungen eingeleitet. «Das SEM stellt sicher, dass die Asylsuchenden den Zugang zur notwendigen medizinischen Unterstützung erhalten», sagt Kormann. Ein grundsätzliches Problem für die ganze Bevölkerung sind die Wartezeiten für psychiatrische Behandlungen – der Fachkräftemangel macht auch vor dem Migrationsbereich nicht halt. Vor diesem Hintergrund sei das SEM zurzeit daran, ein Angebot für niederschwellige Interventionen bei psychischen Problemen zu schaffen.
Wenig hält das SEM von der Idee, die Belegungszahlen in den Asylzentren zu senken. In seinen Augen würde damit nicht nur mehr Personal benötigt und der Logistikaufwand steigen, sondern auch die Asylverfahren würden dadurch länger dauern – weil die Gesuchsteller für die Verfahrensschritte in BAZ mit Verfahrensfunktion gebracht werden müssen.
Das SEM betont, die allermeisten Asylbewerber verhielten sich korrekt. Dass es in Bundesasylzentren dennoch immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt, überrascht nicht. Bewegungsfreiheit und Privatsphäre sind eingeschränkt, man ist zum Warten und Nichtstun verdammt, das Bleiberecht ist in der Schwebe, manchmal kommt Suchtmittelkonsum dazu. Im vergangenen Jahr wurde rund 1000 Mal wegen eines sicherheitsrelevanten Vorfalls aufgeboten, bei etwa einem Drittel davon ging es um eine Tätlichkeit. Pro 10'000 Übernachtungen ergibt das damit acht Polizeieinsätze. Dieser Wert liegt höher als im Vorjahr (5,2), aber tiefer als 2021 (10,3) und 2020 (9,8).