Dritter Tag, neuer Prozessort. Die Verhandlung gegen Pierin Vincenz, Beat Stocker und Co. fand gestern im Blauen Saal des Volkshauses in Zürich statt. Das Gericht musste den Theatersaal räumen, weil dort an zwei Abenden ein russisches Ballett auftritt. Ironischerweise werden die Ballettabende von Raiffeisen gesponsert, wie der «Blick» berichtete.
An ironischen Details mangelte es am dritten Prozesstag nicht. So blieb etwa Lukas Hässig ausgesperrt, und damit just jener Journalist, der mit seinem Blog «Insideparadeplatz» den Raiffeisenprozess 2016 überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte. Der Platz für Journalisten war beschränkt, und das Gericht liess Hässig nicht rein – obwohl es noch freie Plätze gegeben hätte.
Dann fand der Prozess ausgerechnet unter den Augen von Lenin statt. Der «Begründer der Sowjetunion» – wie es auf einer Tafel im Raum heisst – hatte an gleicher Stelle am 9. Januar 1917 eine Rede gehalten. Kapitalisten vor Gericht, das dürfte den Kommunistenführer gefreut haben.
Und schliesslich fand man die Ironie auch im Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Genauer gesagt in der SMS-Korrespondenz zwischen Pierin Vincenz und Beat Stocker, welche die Strafverfolger sichergestellt hatten. «Und hast du hart verhandelt?», schrieb Vincenz an Stocker, als dieser von einer Übernahmeverhandlung zwischen dem Kreditkartenunternehmen Aduno und dem Mietkautionsversicherer Eurokaution zurückkam. Die SMS war begleitet von drei Smileys.
Natürlich hatte Stocker eben nicht «hart verhandelt», das wusste Vincenz, deshalb die drei Smileys. Als stille Teilhaber von Eurokaution hatten Vincenz und er ein Interesse, dass die Aduno möglichst viel Geld für die Firma Eurokaution hinblättert. Die Aduno, für die sie arbeiteten notabene.
Im Gegensatz zum unterhaltsamen ersten Plädoyer-Teil der Staatsanwaltschaft über die «Tour de Suisse im Rotlichtmilieu» von den Luxusreisen auf Spesen, sei der Teil über die Firmentransaktionen, bei welchen Vincenz und Stocker auf beiden Seiten des Verhandlungstisches sassen, «trockener», warnte Chefankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel. Das traf meist auch zu, doch im für den Prozess und die Urteile entscheidenden Teil gelang es der Staatsanwaltschaft dennoch, eine Fülle an konkreten Details über die mutmasslich kriminellen Machenschaften von Vincenz und Stocker zu sammeln.
Diese braucht die Staatsanwaltschaft dringend. Denn um das Gericht vom gewerbsmässigen Betrug zu überzeugen, muss sie Beweise vorlegen, die aufzeigen, dass Vincenz und Stocker sich arglistig gegen ihre Arbeitgeber zum eigenen Vorteil verschworen haben. Dies illustrierte die Staatsanwaltschaft gestern etwa mit handschriftliche Notizen der beiden Hauptbeschuldigten, die sie bei einer Hausdurchsuchung gefunden hatte. Sie zeigen, wie Vincenz eine Aufteilung der Gewinne aus der Investnet-Transaktion auf Papier skizzierte und Beat Stocker mit roter Farbe korrigierend aus 3.3 Millionen Franken 3 Millionen Franken machte.
Staatsanwalt Oliver Labhart zeigte auf, wie sich Stocker und Vincenz die Gewinne aus ihren geheimen Beteiligungen nach den Firmentransaktionen aufteilten. Diese flossen zuerst auf das Konto von Stocker. Danach leitete dieser mehrere Millionentranchen an Vincenz weiter. Eine davon war die 2.9 Millionen-Zahlung, die ein Whistleblower an die Medien weiterspielte. «Darlehen», sagen Vincenz und Stocker, seien diese Zahlungen gewesen. Der Staatsanwalt bezeichnete diese nun als «Scheindarlehen». Nach seiner Rechnung schuldet Vincenz seinem Kompagnon Stocker gar kein Geld, da es sich nicht um geliehenes Geld handelt.
Auch brachte die Anklage neue Details aus der Telefonüberwachung von Vincenz und Stocker vor. Im Februar 2018 machte Raiffeisen wegen einer Firmentransaktion Druck. Vincenz hatte offenbar Angst, dass ihn Peter Wüst, einer der Mitbeteiligten bei Investnet, verraten könnte. Er sagte am Telefon: «Weisst du, wenn Wüst einen Seich herauslässt, dann haben wir ein Risiko!» Er habe Wüst deshalb klar gemacht, dass sich dieser ans «Wording» halten müsse. «Wir müssen uns sauber halten, dann können sie uns nicht knacken», so Vincenz.
Spätestens beim Verlesen des Strafmasses war es fertig mit Ironie und Smileys. Aufgrund der Beweise blieb die Staatsanwaltschaft beim geforderten Strafmass: Sechs Jahre Gefängnis für die beiden Hauptbeschuldigten. Die deliktische Tätigkeit von Vincenz und Stocker habe mit sieben Jahren «sehr lange gedauert». «Die Bereicherung der Beschuldigten ist enorm und der Schaden bei den Privatklägerinnen beträchtlich», betonte Staatsanwalt Labhart.