Der Besucherraum Nr. 1 im Gefängnis Muttenz ist durch eine Scheibe in zwei Hälften aufgeteilt. Eine Neonröhre ist die einzige Lichtquelle im kleinen Zimmer. Ein Aufseher öffnet die schwere Stahltüre auf der anderen Seite.
Leo P. (Name geändert) setzt sich vor der Scheibe an einen Holztisch. Der 59-jährige Schweizer hat lange dunkle Haare, die ihm bis zur Brust reichen, mit einzelnen weissen Strähnen. Er trägt einen goldenen Ring mit einem roten Stein und ein schwarzes Hemd, mit Goldblumen bestickt. Er gestikuliert theatralisch und schnippt mit den Fingern, wenn er eine Aussage betonen will. Ein Mikrofon überträgt seine Worte auf die andere Seite.
Ein Untersuchungsbeamter der Baselbieter Staatsanwaltschaft überwacht das Gespräch. Er blättert aber nur in den Akten und interveniert nie.
Leo P. sitzt seit fast einem Jahr in Haft – wegen einer Tat, die er vor 24 Jahren begangen haben soll. Schon bei seiner Hafteinvernahme legte er ein Geständnis ab. Ja, damals habe sich ein Schuss aus seiner Pistole gelöst. Es sei aber ein Unfall gewesen. Heute betont er: «Es war kein Mord.»
Rückblende ins Jahr 2000: Am 4. Oktober findet in der St. Jakobshalle in Münchenstein das Unihockey-Cupspiel zwischen Basel Magic und Köniz statt. Der Basler Verein hat sich inzwischen aufgelöst. Auf der anderen Seite der Strasse entsteht auf einer Grossbaustelle das neue St. Jakob-Stadion.
An diesem Mittwochabend zwischen 20.30 und 20.45 Uhr treffen sich draussen auf dem Parkplatz vor der Sporthalle zwei Gestalten in der Dunkelheit unter den Alleebäumen. Zwei Kilogramm Kokain wechseln den Besitzer. (Auch in einem heutigen Fall wäre das eine beachtliche Menge, damals aber war das ein enormer Handel.)
Der Verkäufer des Kokains ist ein 21-jähriger Mann aus Ex-Jugoslawien, wie die Polizei damals in einer Meldung schreibt. Um 21 Uhr entdeckt ihn ein Spaziergänger in einem roten Smart sitzend auf dem Parkplatz. Er ist durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt. Im Spital wird er sofort operiert. Doch am Tag darauf stirbt er.
Die Polizei stösst mit ihren Ermittlungen in diesem kriminellen Milieu auf eine Mauer des Schweigens. Nach der Tat nimmt sie zwei Männer aus dem Umfeld des Opfers fest, lässt diese aber kurz darauf wieder frei. Später verhaftet sie sieben weitere Personen, doch der Täter befindet sich nicht darunter.
Dafür kommt die Polizei so an Informanten, die den Täter gesehen haben. Signalement: rund 35 Jahre alt, etwa 190 Zentimeter gross, dunkelblonde schulterlange Haare, sehr schlanke Statur, auffallend blaue Augen, markante Wangenknochen, trägt Pilotenbrille. Gestützt auf diese Angaben veröffentlicht die Polizei kurz vor Weihnachten 2000 ein Phantombild.
Die Angaben und das Fahndungsbild sind präzise, wie sich zwei Jahrzehnte später zeigen wird. Doch damals im Jahr 2000 führt der Fahndungsaufruf zu keinen brauchbaren Hinweisen. Auch eine ausgesetzte Belohnung von bis zu 5000 Franken hilft nicht weiter.
Die Spurensicherung findet allerdings zwei weitere Hinweise am Tatort. Der erste ist ein Fingerabdruck. Schon damals verfügt die Polizei über ein System zur automatisierten Identifikation von Fingerabdrücken. Doch ein Abgleich führt zu keinem Treffer.
Der zweite Hinweis ist ein Exemplar des deutschen Nachrichtenmagazins «Focus». Vermutlich hielt der Täter dieses am Tatort in der Hand. Als die Ermittlungen zu versanden drohen, unternimmt die Polizei nach vier Jahren einen letzten Anlauf. Sie verlangt bei der Herausgeberin des Magazins eine Liste aller Personen aus der Nordwestschweiz, die das Heft im Oktober 2000 abonniert haben. Doch auch diese Spur verliert sich.
Nach vier weiteren Jahren sistiert die Staatsanwaltschaft das Verfahren. Damit ruhen die Ermittlungen, solange keine neuen Hinweise eingehen.
Im Jahr 2016 führt das Bundesamt für Polizei ein neues System für die automatische Fingerabdruck-Identifikation ein. Die neuen Erkennungsalgorithmen sind viel besser und können Spuren zuordnen, die früher zu keinem Treffer führten. Die Polizei prüft deshalb alle Fingerabdrücke nochmals, die sie in ungelösten Fällen noch nicht identifiziert hat.
Da die aktuellen Fälle Priorität haben, vergehen Jahre, bis die Baselbieter Polizei die alten Beweise nochmals neu untersucht. Im Jahr 2023 gelingt ihr jedoch der Coup: Sie identifiziert Leo P. anhand seiner Fingerabdrücke, wie Recherchen zeigen. Am 12. September 2023 fahndet die Baselbieter Staatsanwaltschaft mit einem internationalen Haftbefehl nach ihm.
Zwei Monate später fährt eine Sondereinheit in zwei Kastenwagen vor ein Haus im deutschen Kassel. Die Elitepolizisten springen mit den Waffen im Anschlag heraus und umstellen das Gebäude.
Leo P. wohnt hier bei seiner Frau, die einiges älter ist als er: 71. An diesem Abend will er mit ihr und seiner Tochter in einer Pizzeria essen gehen. Stattdessen landet er in Frankfurt in Auslieferungshaft. Nach einem Monat liefert ihn der deutsche Staat an die Schweiz aus. Seit Dezember wartet er im Untersuchungsgefängnis von Muttenz auf den Prozess.
Die Baselbieter Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Mordes. Der Fall zeigt die Schwierigkeiten der Verjährungsregeln auf, die derzeit politisch neu verhandelt werden.
Heute verjährt Mord nach 30 Jahren. Bis im Jahr 2002 und somit auch für den Kopfschuss bei der St. Jakobshalle galten jedoch ältere Verjährungsregeln. Damals verjährte Mord nach 20 Jahren, aber die Frist begann jeweils nach bestimmten Verfolgungshandlungen neu zu laufen.
Was dies für den aktuellen Fall bedeutet, hat das Bundesgericht kürzlich in einem wegweisenden Entscheid geklärt. Demnach hat die Datenabfrage zum «Focus» im Jahr 2004 die Verjährung unterbrochen. Die Frist von 20 Jahren begann danach nochmals neu. Mit dem internationalen Haftbefehl im Jahr 2023 unterbrach die Staatsanwaltschaft die Verjährung schliesslich erneut.
Die Strafverfolgungsbehörde hatte also Glück. Hätten die Amtsvorgänger die letzte Handlung etwas früher getätigt, wäre der Fall jetzt verjährt. Die Staatsanwaltschaft argumentierte vor dem Bundesgericht, dass auch ihre Sistierungsverfügung aus dem Jahr 2008 die Verjährung unterbrochen habe. Doch das höchste Gericht widerspricht. Denn es zählen nur Handlungen, die das Verfahren voranbringen. Eine Sistierungsverfügung unterbricht dieses.
Die aktuellen Verjährungsregeln sind einfacher. Die Frist für Mord läuft nach der Tat einfach 30 Jahre lang, ohne Unterbrechungen. Ist sie zu kurz? Diese Frage berät derzeit das Bundesparlament.
Die Rechtskommission des Ständerats schlägt vor, Mord für unverjährbar zu erklären. Denn durch technologische Fortschritte seien auch nach 30 Jahren neue Ermittlungsansätze denkbar, zum Beispiel durch DNA-Analysen oder Fingerabdruck-Identifikationen.
Die Ständeräte halten an ihrem Vorschlag fest, obwohl die meisten Kantone dagegen sind – und sogar die Konferenz der Staatsanwaltschaften. Denn die Vorlage würde die bestehenden Widersprüche verschärfen. Eine vorsätzliche Tötung verjährt heute nach 15 Jahren, was so bleiben soll. Der einzige Unterschied zu einem Mord liegt in einer Wertung.
Für einen Mord müssen die Gerichte dem Täter eine «besondere Skrupellosigkeit» nachweisen. Dabei handelt es sich um innere Beweggründe, die auch durch neue Technologien kaum beweisbar sind. Die Staatsanwaltschaften gehen deshalb davon aus, dass Strafverfahren, die sie nach 30 Jahren wieder aufnehmen, in Freisprüchen enden werden – weil sie die Skrupellosigkeit nicht mehr nachweisen können.
Das Problem zeigt sich im Fall von Leo P., der nun nach einer ähnlich langen Frist vor Gericht kommen soll. Sein Geständnis entspricht einer fahrlässigen Tötung, die jedoch bereits nach zehn Jahren verjährt ist. Die Staatsanwaltschaft führt das Verfahren hingegen wegen Mordes. Das ist der einzige mögliche Straftatbestand, der noch nicht verjährt ist.
Um nun aber eine besondere Skrupellosigkeit zu beweisen, wäre sie auf Zeugenaussagen angewiesen. Doch in dieser Szene, die mutmasslich mafiös organisiert war, besteht kaum eine Aussagebereitschaft. Zudem dürften die Erinnerungen nach dieser Zeit ohnehin verwischt sein. Man muss deshalb kein Strafverteidiger sein, um den Ausgang des Verfahrens zu prognostizieren: im Zweifel für den Angeklagten.
Leo P. hat übrigens einen bekannten Strafverteidiger für sich gewinnen können: Milieuanwalt Valentin Landmann. Die beiden kennen sich von früher. Landmann dürfte zudem die Konstellation dieses Cold Case reizen. Er arbeitet als amtlicher Pflichtverteidiger, weshalb er nur die wirklich nötigen Arbeiten in Rechnung stellen kann.
Leo P. wuchs in Schaffhausen auf. Sein Vater war Zöllner und wechselte mehrmals die Stelle. Die Familie zügelte von Zollstelle zu Zollstelle und liess sich schliesslich in Riehen BS nieder.
Leo P. machte eine Ausbildung als Chemielaborant, doch er bekam Probleme am Arbeitsplatz. Deshalb versuchte er sich als Händler von Briefmarken, Antiquitäten, Bildern – und schliesslich von Drogen.
So kam es zu dieser verhängnisvollen Oktobernacht im Jahr 2000, als er mutmasslich andere Dealer mit einer Waffe bedrohte und sich plötzlich ein Schuss löste. Er geriet wohl in Panik und machte sich aus dem Staub.
Nach der Tat lebte er in einem Hotel in der Ostschweiz, wo es sogar zu einer Polizeikontrolle kam. Doch er kam nicht in Haft. Später wohnte er in einer Wohnung in Budapest, ohne sich beim Staat anzumelden. Die Staatsanwaltschaft meint, er habe sich dort versteckt. Leo P. entgegnet, er habe Probleme mit den Steuerbehörden vermeiden wollen.
Schon seit vierzig Jahren leidet Leo P. unter Schlafproblemen. Einem Gefängnisarzt vertraute er an, dass er früher beruflich viel grübeln musste und deshalb keinen Schlaf fand. Heute aber könne er sich die Probleme nicht so recht erklären. Im Gefängnis habe er oft nur zwei bis drei Stunden Schlaf gefunden. Durch den Schlafmangel würden seine Erinnerungslücken grösser.
Leo P. verlangte im Gefängnis deshalb nach einem Schlafmittel. Doch entweder habe er keinen Arzttermin oder das falsche Medikament erhalten. Der Arzt habe ihm kein Schlafmittel, sondern ein Neuroleptikum verschrieben, ohne ihn über die Nebenwirkungen aufzuklären. Der Patient zeigte den Arzt deshalb wegen Körperverletzung angezeigt, doch die Justiz trat darauf nicht ein.
Nach diesem Kampf gegen die Behörden erhält Leo P. inzwischen allerdings jene Schlafmittel, mit denen er zufrieden ist. Im Besucherraum sagt er nun: «Jetzt schlafe ich gut.»
Die Aussage gilt auch für sein Strafverfahren: «Es ist zwar blöd, dass ich deswegen seit einem Jahr festgehalten werde.» Aber er rechne mit einem Freispruch. Schliesslich sei die Tat längst verjährt. (aargauerzeitung.ch)