Politische Umfragen sind stets gut für Kontroversen. Die US-Wahlen von letzter Woche haben dies beispielhaft gezeigt. Nach dem Sieg von Donald Trump gab es mächtig Schelte für das angebliche Versagen der Meinungsforscher. Bei genauer Betrachtung lagen sie nicht so daneben: Immerhin hat Hillary Clinton mehr Stimmen gemacht als Trump, was den meisten Prognosen entspricht. Das Wahlsystem mit dem Electoral College verhalf dem Republikaner zum Erfolg.
Nun bahnt sich in der Schweiz ein ähnlicher Streit an: Zehn Tage vor der Abstimmung über die Atomausstiegs-Initiative der Grünen kommen die beiden grossen Umfragen zu gegensätzlichen Befunden. In der dritten Tamedia-Welle ist die Zustimmung zur Initiative «ungebrochen», wie das Medienhaus mitteilt. Der Ja-Anteil hat gegenüber den beiden ersten Erhebungen nochmals zugenommen, von 55 auf 56 und nun 57 Prozent.
Ganz anders die zweite SRG-Trendumfrage des Instituts GFS Bern. Hier ist die Zustimmung klar rückläufig. 48 Prozent wären sicher oder eher für den Ausstieg aus der Atomenergie, das sind neun Prozentpunkte weniger als in der ersten Erhebung vom 21. Oktober. Das Nein-Lager hat hingegen um zehn Punkte zugelegt, 46 Prozent wollen das Volksbegehren sicher oder eher ablehnen.
2. SRG-Trendumfrage zur Abstimmung vom 27. November 2016: https://t.co/4JDewLRvCp #abst16 #chvote #Atomausstieg pic.twitter.com/TncDeO7OdX
— gfs.bern (@gfsbern) November 16, 2016
Dieser Trend kommt nicht überraschend, er entspricht «dem Normalfall bei einer linken Volksinitiative», wie das Forschungsinstitut festhält. Derartige Vorlagen stossen in der Regel zu Beginn auf einige Sympathie, werden am Ende jedoch mehr oder weniger deutlich abgelehnt. Dies entspricht auch der Entwicklung in der Deutschschweiz, wo die Mehrheiten in der SRG-Umfrage vom Ja ins Nein gekippt sind. Den immer noch recht hohen Ja-Anteil begründen die GFS-Forscher damit, dass parteipolitisch Ungebundene die Initiative der Grünen mehrheitlich unterstützen.
Der Politikwissenschaftler Fabio Wasserfallen, der die Tamedia-Umfragen seit 2014 gemeinsam mit seinem Kollegen Lucas Leemann durchführt und auswertet, hält es für «durchaus plausibel», dass der Ja-Anteil bis zur Abstimmung abnehmen könnte, wie er auf Anfrage erklärt. Gleichzeitig betont er, dass die Teilnehmer der Online-Umfrage sich relativ sicher in ihren Antworten gewesen seien: «Nur wenige haben sich für eher Ja oder Nein entschieden.»
Zur SRG-Umfrage bestehe «sicher eine Diskrepanz», meint Wasserfallen. Sie könnte sich noch verstärken: Wenn der Negativtrend anhält, könnte der Ja-Anteil am Ende rund 40 Prozent betragen. Die beiden Umfragen hätten immer wieder unterschiedliche Ergebnisse erbracht, sagt Wasserfallen. Die «Trefferquote» von Tamedia kann sich allerdings sehen lassen: Bei 68 Prozent aller Vorlagen lag die letzte Erhebung näher beim Endresultat als die zweite SRG-Umfrage.
Die Methodik der beiden Umfragen ist unterschiedlich. Jene von SRG und GFS ist eine Telefonumfrage. Die Online-Erhebung von Tamedia ergibt eine wesentlich grössere Datenmenge. Für die aktuelle Ausgabe wurden die Antworten von mehr als 15'000 Personen berücksichtigt und von Leemann und Wasserfallen nach demografischen, geografischen und politischen Variablen gewichtet, um die Struktur der Stimmbevölkerung möglichst genau abzubilden.
Vielleicht haben am Ende beide irgendwie recht. Es scheint möglich, dass es zu einer Art «Trump-Effekt» kommen wird: Das Stimmvolk sagt mehrheitlich Ja, doch die Initiative scheitert am Ständemehr. Sie stösst vor allem in den urbanen Gebieten auf viel Zustimmung. Die ländlichen Kantone könnten den Ausschlag für ein Nein geben.
Achtung: die Umfragewerte sind nichts wert. Nur die Ja-Stimmen in der Urne zählen. Jetzt abstimmen! #abst16 #AAI2029 https://t.co/MyLgOCYQZB
— Energie-Stiftung SES (@energiestiftung) November 16, 2016
Befürworter und Gegner lassen sich jedenfalls von den unterschiedlichen Umfragen nicht allzu sehr beeinflussen. Man sei «recht entspannt», lässt ein Vertreter des Nein-Lagers verlauten. Die Befürworter des Ausstiegs wie die Schweizerische Energiestiftung (SES) betonen, dass nur die Stimmabgabe zählt. Denn auch in diesem Fall gilt: Abgerechnet wird am Schluss.