Er ist immer dabei und gehört doch nicht richtig dazu: der Bundeskanzler. Auf dem jährlichen Bundesratsfoto fehlt er ebenso wenig wie auf dem Bundesratsreisli.
Das sind Walter Thurnherr und sein Amt:
Mittwochs nimmt Thurnherr mit seinen beiden Vizekanzlern an der Sitzung der Landesregierung teil. Er darf dabei beraten, aber keine Anträge stellen. Und schon gar nicht abstimmen (was Bundesräte aber ohnehin fast nie tun). So mächtig wie ein Bundesrat ist er also nicht, und schon gar nicht geniesst er die Verehrung aus dem Volk, das seine Bundesräte fast schon wie Royals behandelt.
Und doch beneiden die Bundesräte den Bundeskanzler zuweilen für seine Narrenfreiheit. Diese gesteht sich Walter Thurnherr selbst zu – je länger seine Amtszeit dauert, umso stärker.
Seine Analysen sind bemerkenswert. Ebenso seine Kritik am Bundesrat. In einem Interview mit der NZZ diesen Frühling sagte er etwa:
Oder mit Blick auf den internationalen Druck auf die Schweiz:
Ein Mitglied des Bundesrates meinte nach der Lektüre des Interviews lakonisch: «Ich wäre auch gerne Bundeskanzler.» Kritik üben von der Seitenlinie, als ob er nicht schon seit acht Jahren an jeder Bundesratssitzung teilnehmen würde.
Thurnherr gehört unbestritten zu den intelligentesten Köpfen in Bern. Seine Reden (natürlich selber geschrieben) gelten als brillant. Auf Twitter äussert er sich nicht politisch, sondern zu (mathematischen) Rätseln. Schliesslich kann er mehr als Politik. Stolz ist er auch auf seine Weltläufigkeit. Einst sagte er der NZZ, es wäre ein grosser Gewinn, wenn jene, die Einsitz in die Landesregierung nehmen, zuvor zwei Jahre im Ausland gelebt und gearbeitet haben.
Das trifft natürlich auf wenige Bundesräte zu. Aber auf den Bundeskanzler selbst. Der gebürtige Aargauer studierte Physik. 1989 trat er in den diplomatischen Dienst ein. Zu seinen Stationen gehörten Moskau und New York. 1997 machte ihn der damalige CVP-Aussenminister Flavio Cotti zum persönlichen Mitarbeiter. Diese Auslanderfahrung prägte ihn. Wenn Thurnherr über die Probleme der Schweiz redet, dann redet er vor allem über die Rolle des Landes in der Welt.
Auch bei seiner Rücktritts-Medienkonferenz. «Viele Probleme können nur mit internationaler Zusammenarbeit gelöst werden.» Dabei denkt er nicht nur an akute Krisen, sondern zum Beispiel an die Regulierung von künstlicher Intelligenz. Wir müssten dort sein, wo man sich einbringt und Entscheidungen getroffen werden. «Das heisst vernetzt sein, und das wird ein permanentes Problem für die Schweiz bleiben.»
Und nun ist also Schluss. Walter Thurnherr hat am Mittwoch angekündigt, dass er im Dezember nicht mehr zur Wiederwahl antritt. «Es ist Zeit, den Stab weiterzureichen», sagte der 60-Jährige vor den Medien. Die letzten Jahre seien intensiv und anspruchsvoll gewesen. Er habe das Amt gerne ausgeübt: «Doch man soll das Amt dann abgeben, wenn man noch auf der Höhe der Anforderung ist.»
Die Ankündigung überraschte Bundesbern, wo der Politbetrieb nach den Sommerferien langsam wieder aufstartet. Denn Thurnherr machte keinen amtsmüden Eindruck. Doch es ist auch ein offenes Geheimnis, dass nach seinem Gutdünken nicht wenig Bundesräte den idealen Rücktrittstermin verpasst haben. Diesen Fehler wollte er offensichtlich nicht begehen.
Doch wie erfolgreich war Thurnherr tatsächlich als Bundeskanzler? Die Meinungen gehen auseinander, allerdings ist das Wirken eines Bundeskanzlers schwierig zu messen.
Klar ist: Thurnherr sah sich nie als achter Bundesrat, wie das einige seiner Vorgänger getan haben, sondern als oberster Beamter. Einflussreich gewiss, aber es sei nicht seine Aufgabe, seine politische Meinung zu äussern, sagt Thurnherr. «Die juristische Verantwortlichkeit liegt beim Bundesrat, der Kanzler muss sich zurücknehmen.» Er könne aber konstruktive Ideen einbringen, Bundesräte beraten oder bei Streitigkeiten vermitteln.
Das hat er etwa getan, als sich die beiden ehemaligen FDP-Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Didier Burkhalter bei der Ausfuhr von Kriegsmaterial in die Haare gerieten.
Verbürgt ist auch, dass sich Thurnherr aktiv in die Neutralitätsdebatte einmischte, die den Bundesrat seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine beschäftigt. Dass Aussenminister Ignazio Cassis mit einem neuen Konzept der «Kooperativen Neutralität» im Bundesrat auflief und nicht einmal die Unterstützung von Verteidigungsministerin Viola Amherd bekam, die öffentlich mit der bundesrätlichen Neutralitätspolitik hadert, hatte viel mit Thurnherr zu tun.
Der Bundeskanzler störte sich dem Vernehmen nach daran, dass Cassis sein neues Konzept zuerst am Weltwirtschaftsforum WEF in Davos der Welt erklärte und der Bundesrat nur noch abnicken sollte. Für Thurnherr ein untragbar unkollegiales Verhalten.
Diese Seite Thurnherrs, als quasi institutionelles Gewissen des Bundesrates, lobte seine Partei. «Walter Thurnherr ist ein Staatsdiener par excellence. Als Bundeskanzler hat er einen enorm wichtigen Beitrag geleistet, um die Handlungsfähigkeit der Institutionen, insbesondere auch in der ausgehenden Legislatur, sicherzustellen», wird Mitte-Präsident Gerhard Pfister in einer Mitteilung zitiert.
Und Thurnherr selbst wurde seinem Ruf als Hüter des Kollegialitätsprinzips auch vor den Medien gerecht. Er tadelte Mitarbeitende, die nur für ihre Departementschefs arbeiten würden und sich nicht als Teil der Bundesverwaltung sähen: «Die Löhne werden nicht von den Bundesräten bezahlt», sagte der abtretende Bundeskanzler. Und weiter: «Wir haben zu viel Gestürm um Kompetenzen.» In der Vergangenheit übte Thurnherr immer wieder Kritik an den wachsenden Stäben der Departementschefs, die vor allem darum bemüht seien, den eigenen Chef in ein gutes Licht zu rücken.
Ohnehin, die Schweiz und ihre sieben Silos – sprich die sieben Departemente. Es sei ihm nicht gelungen, das Silodenken in den Departementen zu überwinden. Phasenweise habe es sogar zugenommen: «Doch viele Probleme können nur überdepartemental gelöst werden.»
Diese Ansicht teilt GLP-Fraktionschefin Tiana Moser. Ihre Partei fordert schon länger ein geeinteres Auftreten des Bundesrates und mehr Leadership. Der Bundeskanzler spiele dabei eine Schlüsselrolle. Ob die GLP selbst einen Kandidierenden ins Rennen schicken wird, prüft die Partei. Sie hat mit Vizekanzler Viktor Rossi einen möglichen Anwärter in ihren Reihen. Der zweite Vizekanzler, Bundesratssprecher André Simonazzi (SP), liess am Mittwoch offen, ob er sich für das Amt des Bundeskanzlers bewerben wird. Einzig die SVP stellte bereits klar, dass sie Anspruch auf das Amt erhebt.