Die Innenministerin im Hoch: So funktioniert die Methode Baume-Schneider
Sie steht mitten im Publikum, Seite an Seite mit den Fans ihres Dorfklubs. Sie trägt den grünen Schal des FC Courtételle und diskutiert lebhaft mit einem anderen Zuschauer. Eine Gleiche unter Gleichen. Niemand käme auf die Idee, dass da eine Bundesrätin das Cup-Spiel gegen die Young Boys verfolgt: Elisabeth Baume-Schneider, die mächtige Innenministerin, zuständig für die Gesundheit und die Altersvorsorge im Land.
Hätte der Kameramann des Schweizer Fernsehens sie nicht entdeckt, wäre der Matchbesuch im August unbemerkt geblieben. Es war kein öffentlicher Auftritt, wie man sie von Sportministern am Lauberhornrennen oder bei Spielen der Fussball-Nati kennt. Die erste Bundesrätin aus dem Jura, eine ehemalige Separatistin, wollte einfach ihren Club unterstützen, den kleinen FC Courtételle aus der 1. Liga gegen das grosse YB aus Bern.
Ein spontaner Toast mit leeren Gläsern
Es ist eine Episode, die typisch ist für die Frau, die vor drei Jahren völlig überraschend in den Bundesrat gewählt wurde. Baume-Schneider ist nahbar. Die magistrale Distanz, auf die etwa ein Alain Berset stets Wert legte, ist ihr fremd. Sie lacht gerne und setzt beim Business-Lunch mit dem Minister eines anderen Landes schon mal zum Toast an, noch bevor alle am Tisch überhaupt Wein im Glas haben. Trotzdem wirkt das nicht peinlich: Baume-Schneider hat die Gabe, gute Stimmung um sich zu verbreiten. Wenn sie will.
Ihre mitunter unkonventionelle Art zeigte sich schon im Bundesrats-Wahlkampf, als sie sich daheim in Les Breuleux mit Schwarznasenschafen ablichten liess. Was für die Wahl nützte, belastete ihr Image: Baume-Schneider startete ohne Autorität ins Amt.
Dass sie ins ungeliebte Justizdepartement musste, machte die Sache nicht besser. Ein Jahr harrte sie aus, ohne ersichtlichen Ehrgeiz, im schwierigen Zuwanderungs- und Asyldossier Spuren hinterlassen zu wollen. Bei der ersten Gelegenheit wechselte sie ins Innendepartement. Manche sprachen von einer Flucht.
Zwei Jahre ist das her. Und wären 2024 nicht sieben Abstimmungen gewesen, die sie als neue Innenministerin zu vertreten hatte, wäre sie wohl gänzlich in der Versenkung verschwunden. Manchmal kursiert in Redaktionen der Scherz, man könnte über einen aktiven, aber unauffälligen Politiker einen Artikel schreiben unter dem Titel: «Was macht eigentlich ...?» Elisabeth Baume-Schneider hätte sich dafür qualifiziert.
Gelbe Karte für Pierre-Yves Maillard
In den letzten Monaten zeigte sich nun aber: Die 61-Jährige hat die Zeit abseits des Scheinwerferlichts genutzt. Sie hat bei wichtigen Dossiers Erfolge erzielt: Sie hat den Bundesrat überzeugt, bei der nächsten AHV-Reform auf eine Erhöhung des Rentenalters zu verzichten. Sie hat die grosse Tarif-Reform im Gesundheitswesen umgesetzt. Sie hat die Lobbys aus der Gesundheitsbranche dazu gebracht, Sparvorschläge zusammenzutragen. Und sie hat sich von den zwei SP-Alphamännchen aus der Westschweiz, Pierre-Yves Maillard und Alain Berset, emanzipiert.
Als Erstes zeigte sie Maillard die gelbe Karte. Nachdem der SP-Ständerat und Gewerkschaftsboss sich im Frühling 2024 in einem Interview darüber ausliess, was «Elisabeth» zu tun oder zu lassen habe, konterte sie öffentlich: «Ich mag solche Aussagen allgemein nicht – auffällig oft sind es Männer, die zu wissen meinen, was eine Frau denkt.»
Bei der AHV-Reform kam ihr kurz darauf das Volk zu Hilfe: Es stimmte im März 2024 für die 13. Rente und schickte die Initiative der Jungfreisinnigen für ein höheres Rentenalter bachab. So konnte Baume-Schneider den Bundesrat trotz der SVP-FDP-Mehrheit von einer Reform mit Einsparungen, aber ohne höheres Rentenalter überzeugen.
Beim Wechsel vom Ärztetarif Tarmed zum neuen Tardoc hat sie mehr Mut bewiesen als ihr Vorgänger: Berset und das Parlament pochten stets auf Pauschalen für ärztliche Leistungen. Doch weil diese nicht ausgereift sind, schob Berset die Einführung immer weiter hinaus. Baume-Schneider wagte es, sie in Kraft zu setzen. Ab 2026 gilt das neue Regime.
Mehr Entschlossenheit
Noch weiter geht sie beim elektronischen Patientendossier, mit dem viel Geld gespart und die medizinische Versorgung verbessert werden kann. Sie warf Bersets Konzept integral über Bord und präsentierte diese Woche einen Neustart. Nicht wie bisher mit kantonalen, dezentralen Lösungen, die sich offensichtlich nicht bewähren, sondern mit einem zentralen Modell. Und mit mehr Entschlossenheit: Grundsätzlich werden sämtliche Patientendaten digital verwaltet. Wer das nicht will, muss Widerspruch anmelden. Das elektronische Patientendossier ist zwar freiwillig – doch die Bundesrätin übt freundlich Druck aus.
Schon in der Woche zuvor trat sie vor die Medien: mit einem Sparpaket im Gesundheitsbereich über 300 Millionen Franken. 38 Projekte sollen dazu beitragen, darunter weniger Schilddrüsen-Hormontests und tiefere Verwaltungskosten der Krankenkassen. Zusammengetragen hatten diese Massnahmen die verschiedenen Gesundheitslobbys selbst, von der Ärzteschaft über die Spitäler bis zu den Kantonen.
Baume-Schneiders Kernkompetenz: Zuhören
Am Beispiel des runden Tischs lässt sich die Methode Baume-Schneider am besten aufzeigen. Sie beruht auf einer ihrer Kernkompetenzen: dem Zuhören. Das sagen Gesundheitspolitiker im Parlament, das sagen Vertreterinnen aus den Verbänden. Und sie schafft es, die Akteure des Gesundheitswesens in die Pflicht zu nehmen. Viele sprechen von einem «partizipativen Stil» der Magistratin, sie fühlen sich ernst genommen. Tatsächlich haben die Lobbyisten selbst die Vorschläge für das 300-Millionen-Sparpaket zusammengetragen – insofern ist die Ausgangslage gut, dass es auch in die Tat umgesetzt wird.
Allerdings trägt die Gesundheitspolitik mitunter manisch-depressive Züge: Auf ein Hoch folgen bittere Abstürze. Das hat schon Alain Berset so erlebt, dessen Kostendämpfungspakete wiederholt im Parlament zu Reförmchen zerbröselten. Immerhin: Indem er die hiesigen Medikamentenpreise an jene des Auslands band, sparen wir jährlich Kosten in Milliardenhöhe. Das führt auch Baume-Schneider fort.
Doch wie einst Berset muss auch Baume-Schneider ihre Projekte noch durchs Parlament bringen – aus einer Minderheitsposition heraus. Dass die bürgerliche Mehrheit in den Räten die Ideen der SP-Bundesrätin unverändert durchwinkt, ist höchst unwahrscheinlich.
Bei der Tarif-Reform Tardoc zeigt sich kurz vor der definitiven Umsetzung, wo es überall noch klemmt. Der Unmut in der Ärzteschaft ist gross, 500 Änderungsanträge sind hängig. Und gegen das elektronische Patientendossier haben schon erste Organisationen Widerstand angemeldet.
Für Elisabeth Baume-Schneider gilt, was im Cup-Spiel gegen die Young Boys für ihren FC Courtételle galt: Das Spiel ist erst fertig, wenn der Schiedsrichter abpfeift. Courtételle hat heroisch gekämpft: Bis zur 78. Minute stand es 1:1. Doch dann verliessen Courtételle die Kraft und das Glück. Die Partie ging 1:4 verloren. (aargauerzeitung.ch)
