Auf einmal waren alle Charlie. Bereits kurz nach dem Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitung «Charlie Hebdo» vor drei Wochen in Paris verbreitete sich der Slogan «Je suis Charlie» wie ein Lauffeuer in den sozialen Netzwerken. Weltweit wurde mit diesem Motto für das Recht auf freie Meinungsäusserung demonstriert.
Drei Wochen sind eine lange Zeit. «Je suis Charlie» scheint schon weit weg. In den letzten Tagen gab es eine beunruhigende Häufung von Tendenzen, die die Meinungsfreiheit relativieren.
So wurde am Freitag bekannt, dass zwei SVP-Funktionäre wegen Verletzung der Antirassismus-Strafnorm angeklagt werden, wegen des Inserats «Kosovaren schlitzen Schweizer auf!». Es handelt sich um eine selbst für SVP-Verhältnisse krasse Provokation, wurde doch ein Einzelfall auf die gesamte Volksgruppe der Kosovaren extrapoliert. In einer späteren Version hat die SVP dies korrigiert, dennoch ist es wohl richtig, dass die Gerichte den Fall beurteilen.
Höchst fragwürdig ist hingegen, dass der Rechtsanwalt, der die Anzeige eingereicht hat, am gleichen Tag eine Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht hat. Er verlangt, dass die Volksabstimmung vom 9. Februar 2014 über die Masseneinwanderungsinitiative für ungültig erklärt werden soll. Die Begründung: Weil das besagte Inserat im Abstimmungskampf eingesetzt wurde, sei das Stimmvolk möglicherweise «mittels strafbarer Handlung manipuliert worden».
Die Beschwerde dürfte chancenlos sei. Ohnehin ist noch gar nicht sicher, ob die SVP tatsächlich die Antirassismus-Strafnorm verletzt hat. Vorerst gibt es nur eine Anklage, ein rechtskräftiges Urteil liegt noch lange nicht vor. Wirklich verheerend aber ist das Motiv hinter der Beschwerde. Kann es wirklich sein, dass unliebsame Volksentscheide durch die Gerichte kassiert werden?
Die Tendenz, unliebsame Erscheinungen in der Gesellschaft mit Verboten zu bekämpfen, scheint sich auf bedenkliche Weise zu häufen. Und zwar auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Während die Linke dabei vorwiegend die Gerichte bemüht, setzt die Rechte auf Volksabstimmungen. SVP-Vertreter lieferten dafür diese Woche zwei weitere Bespiele.
So hat das Egerkinger Komitee um den Solothurner Nationalrat Walter Wobmann entschieden, die Volksinitiative für ein Verhüllungsverbot definitiv zu lancieren. Sie zielt in erster Linie auf den Gesichtsschleier, wie ihn strenggläubige Musliminnen tragen. Im Gegensatz zum Minarettverbot, das die Meinungs- und Religionsfreiheit torpedierte, könnte man diese Initiative auf die leichte Schulter nehmen. Nur ganz wenige Musliminnen in der Schweiz sind verschleiert, vorab Konvertitinnen. Eher dürfte sie dem ohnehin darbenden Tourismus schaden, weil zahlungskräftige Feriengäste aus den Golfstaaten wegbleiben könnten.
Trotzdem ist es ein Armutszeugnis für eine freiheitliche Gesellschaft, wenn sie derartige Kleidervorschriften in die Verfassung schreibt. Noch unmöglicher ist die von der Freiburger SVP beschlossene Volksinitiative, mit der sie das Anfang Jahr eröffnete Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Freiburg wieder schliessen will. Ein begründetes Argument dafür gibt es nicht. Einziges Motiv für das Begehren sind diffuse Ängste vor dem Islam.
Die Reaktion fortschrittlicher Muslime auf solche Entwicklungen ist häufig nicht besser. Das betrifft etwa das wiederholt geforderte Verbot des Islamischen Zentralrats Schweiz (IZRS). Dieser provoziert zwar nach Kräften, weiss aber genau, wo sich die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit befinden. Gleiches gilt für jene Salafisten, die in Schweizer Städten den Koran verteilen. Sie mögen extreme Ansichten vertreten, dennoch sind ihre Aktionen durch das Recht auf freie Meinungsäusserung geschützt.
Eine freiheitliche Gesellschaft braucht Leitplanken in Form von Gesetzen. Vermutlich braucht es auch eine Antirassismus-Strafnorm, obwohl ich mich dazu nach dem Hitlergruss-Urteil im vergangenen Jahr kritisch geäussert habe. Ich bin mir bewusst, dass ich als heterosexueller weisser Mann aus katholischem Milieu, dessen Vorfahren väterlicherseits mindestens seit dem 16. Jahrhundert in der Schweiz ansässig sind, in Sachen Rassendiskriminierung privilegiert bin.
Dennoch frage ich mich, ob man immer gleich die Justiz bemühen muss, wenn einem eine bestimmte Entwicklung nicht in den Kram passt. Gibt es keine Zivilcourage mehr? Sind wir nicht in der Lage, für die Rechte von Ausländern und religiösen Minderheiten einzustehen? Müssen wir die Gerichte über den Holocaust oder den Genozid an den Armenieren – siehe der Fall Perinçek – urteilen lassen? Wäre dies nicht die Aufgabe von Historikern?
Niemand muss Mohammed-Karikaturen publizieren. Und es gibt sehr gute Gründe, keine Köpfungsvideos der Terrorgruppe IS – oder auch nur Ausschnitte davon – zu zeigen (wie auch watson entschieden hat). Auch muss niemand rassistische oder unflätige Meinungsäusserungen akzeptieren. Wenn wir aber Gesetze beschliessen oder Volksinitiaitiven lancieren, ohne auf die Selbstheilungskräfte der aufgeklärten Gesellschaft zu vertrauen, wandeln wir auf einem gefährlich abschüssigen Pfad.
Dann waren die «Je suis Charlie»-Buttons nicht mehr als ein Modegag.