An jenem 5. Juli 2008 ereignete sich in Brig Unerhörtes. Mehrere der 40 Redner an der SVP-Delegiertenversammlung attackierten Übervater und Vizepräsident Christoph Blocher frontal. «Welche Position wollen Sie vertreten? Oder wird die SVP keine Meinung haben?», fragte ihn der damalige Schwyzer Nationalrat Peter Föhn – und fügte hinzu:
Eine Revolution lag in der Luft. Die Basis drängte vehement auf ein Referendum gegen die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien. Blocher und die Parteileitung lehnten das ab. Mit dem Argument, der Bundesrat habe in «hinterhältiger Manier» ein «schmuddeliges ‹Päckli›» (Blocher) geschnürt, als er die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien und ihre Weiterführung mit den alten EU-Staaten in einer Vorlage verband.
Indirekt unterstützte Blocher, den das Parlament ein halbes Jahr zuvor als Bundesrat abgewählt hatte, damit den offiziellen Kurs von Regierung und Parlament. Er musste aber in Brig so bös unten durch wie nie wieder an einer SVP-Versammlung. Als er das Wort ergriff, sprachen die Delegierten einfach weiter. Fast flehend sagte Blocher: «Ich bitte Sie dringend: Denken Sie an das Ende.» Womit er einen allfälligen Abstimmungskampf ansprach. Blocher gewann – mit 326:166 Stimmen.
Knapp 16 Jahre später, am 23. März 2024, geschah Ähnliches an der Delegiertenversammlung in Langenthal - wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Im Mittelpunkt stand Blochers Tochter Magdalena Martullo-Blocher, ebenfalls als SVP-Vizepräsidentin. Sie bekämpfte das Stromgesetz aus der internen Oppositionsrolle heraus, gegen ihre eigenen Bundesräte Albert Rösti und Guy Parmelin und gegen zwei Drittel der SVP-Fraktion. Rösti hat das Gesetz als Nationalrat mitgeprägt und vertritt es als Bundesrat.
Auch Martullo-Blocher siegte an einer emotionalen Versammlung. Die Delegierten sagten Nein mit 242:149 Stimmen bei sechs Enthaltungen. Sie kippt die SVP damit in die Opposition.
Was erzählen uns die beiden Episoden? Zur Hauptsache dies: Seit 1992, mit dem Sieg bei der EWR-Abstimmung, dominiert in der SVP das Blocher-Gen. Und gegen dieses Gen ist parteiintern kein Kraut gewachsen.
Christoph Blocher baute die Partei des bäuerlich-gewerblichen Mittelstandes, die sie 1991 war, zur wirtschaftsliberalen, einwanderungs- und europakritischen SVP von heute um. Damit gelang es ihm, den Wähleranteil fast zu verdreifachen, von 11,9 (1991) auf 29,3 Prozent (2015). Am 24. März 2018 trat er als Vizepräsident zurück. Ersetzt wurde er durch seine Tochter, die 2015 in den Nationalrat gewählt worden war.
Was umfasst das Blocher-Gen? Christoph Blocher wie seine Tochter Magdalena Martullo zeichnen sich durch Beharrlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit aus, verbunden mit einem autoritären Führungsstil. Beide weisen eine gute Portion Egozentrismus, Unverfrorenheit und Sendungsbewusstsein auf. Zudem haben sie ein Gespür für wirtschaftliche (wie politische) Opportunitäten. Das hat sie zu Reichtum geführt - und Geld bedeutet Macht, auch in der Politik.
Viele sprachen Martullo das Erkennen von politischen Sensibilitäten ab, weil sie ruppiger und impulsiver auftritt als ihr Vater. Wie Langenthal zeigt, war diese Einschätzung ein Fehler, zumindest im Moment. Martullo hat mit engsten Getreuen – Präsident Marcel Dettling, Fraktionschef Thomas Aeschi und SVP-Finanzchef Thomas Matter – Parteileitungsausschuss, Parteivorstand und zuletzt Delegiertenversammlung gekehrt. Das ist ihr politisches Gesellenstück.
Die milde Phase der SVP mit eher geringem Blocher-Einfluss dauerte nur kurz: von 2015 mit der Wahl Guy Parmelins als zweitem Bundesrat bis zu den Wahlen 2023. Mit Röstis Wahl 2022 schien die SVP zu einer ganz normalen Regierungspartei zu werden.
Seit Langenthal aber ist klar: Das Blocher-Gen hat die Partei wieder fest im Griff. Die Politik der SVP wird härter, aggressiver und oppositioneller. Die aktuelle Generation spielt allerdings virtuoser auf der Klaviatur der demokratischen Möglichkeiten als frühere Generationen. Klassische Opposition mit Referenden und Initiativen bleibt zwar die wichtigste Variante. Nachhaltigkeits- und Grenzschutzinitiative wollen Zuwanderung und Asylwesen programmatisch umgestalten.
Parallel dazu setzt die SVP aber auch gezielter denn je auf institutionelle Möglichkeiten, um ihrer Politik zum Durchbruch zu verhelfen. In der Bundesverwaltung hat sie mit ihren zwei Bundesräten starken Einfluss. Zudem nutzt sie die parlamentarischen Kommissionen verstärkt, um ihre Botschaften zu platzieren. Und in der ersten Frühlingssession der neuen Legislatur brachte sie mithilfe von FDP und Mitte etwa beim CO2-Gesetz und beim Umweltschutz so viele Anliegen durch, dass bei der Linken resignative Tendenzen zu spüren sind.
Kommt dazu, dass die politische Agenda der SVP in die Hände spielt. Die Schweiz verhandelt mit der EU die Bilateralen III. Das bringt die Partei in die Rolle, die sie am liebsten hat: (fast) alle gegen die SVP. (aargauerzeitung.ch)
Und solange die Wirtschaft, die auf Abkommen mit der EU drängen, sich nicht endlich klar und offen von der SVP distanzieren bzw deren Exponenten aus den Verbänden kippen wird das nichts.
Solange die FDP lieber Pudel spielt anstatt selbstständig zu agieren passiert halt auch wenig