Unter den Gegnern der Corona-Massnahmen ist die Frage ein Dauerbrenner: Warum gibt es in der Schweiz nicht mehr Betten auf den Intensivstationen? Sie seien seit der ersten Welle von 1300 auf rund 800 abgebaut worden, wird geklagt, angereichert mit verschwörerischen Untertönen. Dabei wird der Politik unterstellt, sie habe den Abbau absichtlich betrieben.
Welchen Sinn es macht, die Betten während der grössten Gesundheitskrise seit 100 Jahren mutwillig zu reduzieren, bleibe dahingestellt. Logik ist keine Stärke der Skeptiker-Szene. Und Finanzminister Ueli Maurer machte es sich gar leicht, als er der «Weltwoche» sagte, der Bundesrat habe in der Covid-Krise alles geregelt, «nur bei den Spitalbetten gar nichts».
Der Bund hat bei den Spitälern wenig zu sagen. Zuständig sind in erster Linie die Kantone. Dennoch hat sich etwas getan. Gemäss der neuesten Version des Covid-19-Gesetzes, die am letzten Freitag vom Parlament verabschiedet wurde, sollen die Kantone den Spitälern «die zur Abdeckung von Auslastungsspitzen nötigen Vorhalteleistungen finanzieren».
Dieser Satz in schönstem Bürokratenjargon bedeutet konkret, dass die Spitäler eine Bettenreserve schaffen müssen. Der Bund muss in Absprache mit den Kantonen die nötigen Kapazitäten festlegen. Das dürfte für Gesprächsstoff sorgen, denn mit zusätzlichen Betten ist es nicht getan. Es braucht auch Pflegepersonal zur Betreuung der Patienten.
Für die Intensivpflegestationen (IPS) trifft dies in besonderem Masse zu. Pflegekräfte brauchen eine Zusatzausbildung, denn der Betreuungsaufwand ist gross. Das gilt besonders für Covid-Patienten. Sie liegen oft wochenlang auf den IPS, während Herzinfarkt-Patienten oder Unfallopfer meist nach ein paar Tagen in die «normale» Abteilung verlegt werden.
Dies verschärft das Problem, ebenso wie die Tatsache, dass vorwiegend ungeimpfte Covid-Patienten die Intensivstationen belegen. Im Kanton Zürich beträgt ihr Anteil 85 Prozent. Es sei «unhaltbar», dass das gesamte Pflegepersonal darunter leide, ärgerte sich SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli am Montag an einer Medienkonferenz.
Als Konsequenz haben viele Pflegende in den letzten zwei Jahren den Beruf verlassen. Es ist der Hauptgrund, warum die Schweiz derzeit «nur» über 865 IPS-Betten verfügt (wovon laut Bundesamt für Gesundheit derzeit rund 300 mit Covid-Patienten belegt sind). Dieser Aspekt aber wird von den «Skeptikern» gerne heruntergespielt oder vollständig negiert.
Ein «Nebelspalter»-Redaktor verstieg sich auf Twitter zur Behauptung, beim fehlenden Pflegepersonal handle es sich um eine «Meinung». Dabei ist die Faktenlage glasklar: «Eigentlich hätten wir 36 zertifizierte IPS-Betten. Aktuell können wir 28 betreiben, nächsten Monat noch 26», sagt Stephan Jakob, Chefarzt am Berner Inselspital, im SRF-«Club».
Grund ist gemäss Jakob der Personalmangel: «Viele haben gekündigt. Manche sind länger krankgeschrieben, weil sie nach diesen schweren 21 Monaten so erschöpft sind.» Auch der Pflegeverband SBK teilte gegenüber «CH Media» mit, viele Kolleginnen und Kollegen hätten «den Beruf verlassen, ihr Pensum reduziert oder sind selber erkrankt».
In der ersten Welle konnten Studierende und Pensionierte rekrutiert werden, ausserdem kam es zur Teilmobilmachung der Armee. Nur aus diesem Grund konnte die Bettenzahl «notfallmässig» auf 1300 ausgebaut werden. Das aber ist vorbei. «Damals hatten wir eine Liste von 1000 Personen. Jetzt ist sie bei null», sagte Stephan Jakob im SRF-«Club».
Potenzial gäbe es bei den vielen Berufsaussteigerinnen und -aussteigern. «Wir haben in der Schweiz eine ganze Reservearmee von ehemaligen IPS-Fachleuten», sagte der Gesundheitsökonom Werner Widmer in der NZZ. Diese lässt sich allerdings nicht einfach so «mobilisieren». Der grösste Teil dieser Fachleute dürfte längst einen anderen Job haben.
Deshalb wird viel über Bonuszahlungen diskutiert. SP-Co-Präsident Cédric Wemuth fordert eine Lohnerhöhung von 1000 Franken pro Monat für alle im Pflege- und Spitalwesen. Abhilfe könnte eine Ausbildungsoffensive schaffen, die nach der klaren Annahme der Pflegeinitiative neu aufgelegt werden dürfte. Aber bis diese wirkt, wird es dauern.
Fragen stellen sich auch zur Finanzierung der «Vorhalteleistungen» bei den Spitalbetten. Die Kantone geben bekanntlich nicht gerne Geld aus. Im Parlament wurde diskutiert, ob Bund und Kantone sich mit je 50 Prozent beteiligen sollen. Die Idee wurde verworfen, dennoch soll der Bund nun den Kantonen gemäss «CH Media» finanziell unter die Arme greifen.
Für die drohende Omikron-Welle aber kommen alle diese Massnahmen zu spät. Und es stellen sich auch schwierige Fragen: Wie viele «Vorhalteleistungen» bei Betten und Personal sind genug? Die Schweiz hat ein sehr teures Gesundheitswesen. Können und wollen wir es uns leisten, auf «Vorrat» zusätzliche Kapazitäten auf den Intensivstationen zu schaffen?
Das Coronavirus wird – hoffentlich – irgendwann saisonal und/oder endemisch. Wie gehen wir damit um? Man kann sich über die Passivität der Politik bei diesem Thema wundern. «Es ist erstaunlich, wie lange die Schweiz gebraucht hat, um nur schon laut über den Flaschenhals Intensivstationen nachzudenken», kritisierte etwa die NZZ.
Es gibt jedoch keine simplen Lösungen für schwierige Fragen. In dieser Krise erst recht nicht.
Oder um es wieder mal auf die altbekannte abstrakte Faustregel zu reduzieren: Ein exponentielles Problem lässt sich nicht mit linearen Massnahmen bekämpfen. Aber dass unsere Politiker leider so ihre Mühe mit Exponentialfunktionen bekunden, das wissen wir inzwischen ja auch zur Genüge...
Nun sind sie es die am einmal mehr am lautesten schreien…