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Coronavirus: Ein Intensivmediziner zieht Bilanz

Ein Intensivmediziner zieht Bilanz: «Eine Patientin ist schon seit 77 Tagen bei uns»

Peter Steiger, stellvertretender Institutsdirektor Intensivmedizin am Unispital Zürich, hat noch keine Monate wie die letzten beiden erlebt.
29.05.2020, 20:2930.05.2020, 12:01
Sabine Kuster / ch media
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«Wir sahen die Welle kommen von China via Italien. In die Intensivstationen im Tessin, im Welschland und auch besonders Zürich kamen immer mehr Covid-­19-Patienten. Wir fürchteten die Überlastung.

Peter Steiger, Institut fuer Intensivmedizin, spricht am Point de Presse des Universitaetsspital Zuerich am Dienstag, 7. April 2020, in Zuerich. (KEYSTONE/Alexandra Wey)
«Jene Rufer, die das Ganze verharmlosen, sollten einmal unsere Intensivstation besuchen», sagt Peter Steiger, stellvertretender Institutsdirektor Intensivmedizin am Universitätsspital ZürichBild: KEYSTONE

Am Unispital Zürich schufen wir zwei separate Corona-Intensiv­stationen. Wir konnten schliesslich genug Beatmungsgeräte beschaffen, aber der Knackpunkt blieb gut ­geschultes Personal. Wir waren erleichtert, als das Operationsprogramm eingeschränkt wurde, sodass wir weniger Patienten als sonst auf den normalen Intensivstationen hatten.

Die Fallzahlen stiegen. Der Bund verordnete das Social Distancing und die Hygieneregeln, aber man sah, dass sich die Leute nicht genügend daran hielten. Besonders am Wochenende vom 14./15. März, bevor der Bundesrat am Sonntagabend den Lockdown beschloss. Ich denke, nur deswegen kam es überhaupt zum Lockdown. Dadurch lernte man aber, wie man sich verhalten muss – das ist das Positive.

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Auf dem Höhepunkt der Epidemie Anfang bis Mitte April hatten wir gleichzeitig bis zu 21 Patienten auf den beiden Covid-Stationen mit total 28 Betten. Wir hätten noch andere Intensivstationen reservieren können. In der Hinterhand hatten wir 41 Betten, die durch Anästhesisten betreut worden wären. Das wäre aber schwierig geworden, weil wir sahen, dass die Patienten schwer krank sind, zumindest bei uns.

Die schweren Fälle wurden in ein Zentrumsspital wie unseres verlegt. Unsere Kranken waren sehr aufwendig zu betreuen und blieben lange. Ich habe jetzt noch eine Patientin von den Anfängen der Epidemie hier. Sie ist schon 77 Tage bei uns. Bis vor kurzem im Koma, jetzt wach, aber immer noch auf der Intensivstation. Auch andere Patienten sind schon über zwei Monate hier.

Nur zwei Patienten über 80 Jahre

Meine Angst ist, dass man keine oder nur eine kurzfristige Immunität entwickelt. Das würde heissen, dass man das Virus nicht mehr wegbringt und man nicht impfen kann. Das wäre besonders für die Alten schlimm. Aber auch für Jüngere.

«Auf unserer Intensivstation waren nur zwei Patienten über 80 Jahre alt. Die meisten waren 50- bis 70-jährig.»

Eine Patientin, die noch hier ist, hatte nur Asthma, nichts wildes. Es ist nicht nur eine Lungenkrankheit. Kurze Zeit später haben Patienten mit schweren Verläufen ein Nierenpro­blem, ein Leberproblem, ein Herzproblem. Ausserdem erwachen sie sehr langsam aus dem künstlichen Koma. Das heisst, irgendetwas im Gehirn ist auch nicht gut. Das Virus befällt die Gefässwände überall. Durch kleinste Gerinnsel sinkt die Durchblutung der Organe und schwächt deren ­Funktion.

Die vergangenen Wochen auf der Intensivstation sind mit keinen anderen davor vergleichbar: Wir hatten Patienten mit einer Krankheit, die wir noch nicht kennen und bei der man zunächst Angst haben musste, sich selbst anzustecken. Auch die ganze Zeit eine Schutzausrüstung zu tragen, ist ungewohnt.

Groteske Wahrnehmungen und Verleumdung der Realität

Gleichzeitig sahen viele Leute das Problem nicht. Ich wurde von Nachbarn angesprochen, die fanden, das Ganze sei nur ein fauler Zauber und die Zustände in Italien seien gestellt gewesen. Wenn ich erwiderte, die Welle habe rechtzeitig gebremst werden können, hörte ich, ich sei ja jeden Abend nach Hause gekommen, um zu übernachten, da könne es wohl nicht so schlimm sein.

«Es gibt groteske Wahrnehmungen und Verleumdungen der Realität. Die momentane Stimmung ist, wie wenn im Tessin Trockenheit herrscht, man ein Feuerverbot ausspricht und sich jene beschweren, die gerne in den Wald bräteln gegangen wären. Weil ja kein Feuer ausbrach. Das ist unglaublich.»

Wenn man mit jemandem aus New York redet, dann tönt das ganz anders, weil jeder jemanden in der Familie oder Bekanntschaft hat, der betroffen oder gestorben ist. Bei uns grassiert nun mit dem schönen Wetter die Unbeschwertheit und die Leute wollen nachholen, was sie verpasst haben.

Angst vor einer Ansteckung herrschte auch im Spital

Auf der anderen Seite sollte auch keine Angstmacherei betrieben werden. Das war bei uns auf der Station anfangs auch ein Problem. Die meisten gingen absolut professionell damit um, aber einige waren in Panik. Wir mussten aufpassen, dass sich die Ansteckungsangst nicht auf die ganze Gruppe übertrug.

«Manchmal dachte ich: Jene Rufer, die das Ganze verharmlosen, sollten einmal unsere Intensivstation besuchen. Wenn sie sich überhaupt reintrauen würden.»

Zum Glück hatten wir keine einzige Ansteckung innerhalb des Spitals im Kontakt mit Covid-19-Patienten. Es gab nur Fälle, die ausserhalb passierten – ein Oberarzt steckte sich in Ischgl an. Wir haben die Maskentragpflicht früh durchgesetzt. Und wir waren auch in Pausenräumen sehr darauf bedacht, dass die Abstände eingehalten wurden.

Es ist schon für das Personal schwierig, die Hygienerichtlinien korrekt einzuhalten und dass man Gesicht und die Maske nicht berührt. Um Ansteckungen zu verhindern, galt das Besuchsverbot. Es ist schwierig, in einem solch aussergewöhnlichen Betrieb auf Angehörige aufzupassen.

Patienten, die im Sterben lagen, durften besucht werden, einmal oder auch zweimal. Und ein- bis zweimal pro Tag riefen wir die Angehörigen an und versuchten auch Videoübertragungen zu machen. Das Heikle dabei war, dass wir nicht wussten, wie es den Angehörigen geht, wenn wir die Übertragung beenden.

«Wenn wir genug Leute und Platz hätten und wüssten, dass sich die Angehörigen richtig verhalten, dann könnte man mehr Besuche zulassen. Es ist schlimm, alleine so krank zu sein oder gar zu sterben.»

Nach der Intensivstation folgt die Rehabilitation

Viele der Genesenen sind nun in der Rehabilitation. Ob sie wieder die volle Stärke zurückerhalten, ist nach langen Aufenthalten auf Intensivstationen immer schwierig zu sagen. Das Risiko, dass die Lunge eingeschränkt bleibt, ist da. Oft kommen kognitive Probleme dazu. Und Angststörungen, die länger andauern können.

Mit Covid ist nicht zu spassen. Deshalb finde ich es sehr schade, dass der Bundesrat die Maskenpflicht nicht verordnet hat, überall wo man den Zwei-Meter-Abstand nicht einhalten kann. Ich hoffe sehr, dass, wenn nun immer mehr Lockerungen kommen, keine zweite Welle kommt. Man sieht wieder diese Fotos von Leuten, die viel zu nah in zu grossen Gruppen an den Wochenenden unterwegs sind. Das irritiert mich.»

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12 Sätze, die garantiert niemand während der Quarantäne gesagt hat
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77 Kommentare
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RicoH
29.05.2020 20:45registriert Mai 2019
Danke für diesen Einblick in die Tiefen dieser Krankheit. Das sollte eigentlich die Menschen aufrütteln, die noch immer den Vergleich mit einer Grippe anstellen.

Ich hoffe sehr, dass eine zweite Welle nicht auf uns zu kommt. Aber irgendwie teile ich die Bedenken von Peter Steiger.
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dodo, dodo?
29.05.2020 21:09registriert Mai 2020
was bleibt? erinnerung an klatschen auf dem balkon, man hat sich ja so solidarisch gezeigt.
br unterstützt fluggesellschaften mit 1.3 milliarden. wo bleibt die schlagzeile mit milliarden unterstützung für med. und pflegepersonal?
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Hippokrates
29.05.2020 21:50registriert Oktober 2014
Endlich mal ein objektiver, ehrlicher Bericht ohne Polemik, Verschwörungsirrsinn und politischem Wahlkampfkalkül.
Merci, Herr Kollege Steiger und Watson.
Mir erging und ergeht es leider ähnlich mit den vielen zns – insuffizienten ...
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