Der «diffuse Dauerstress» macht die Corona-Zeit so schwierig. Hier berichten vier Experten
Freunde fehlen, das liebste Hobby kann nicht mehr ausgeübt werden, Familienfeste fallen ins Wasser: Die Corona-Pandemie hat unser Leben mächtig durchgeschüttelt. Das kann auf die Psyche schlagen. Vor allem Jüngere sind davon verstärkt betroffen.
Anfang Januar schrieben die drei grossen Psychologie-Verbände FSP, ASP und SBAP dem Bundesrat einen offenen Brief. Wer eine psychotherapeutische Behandlung benötigt, müsse aktuell lange warten. Unter anderem forderten sie darum ein schnelles Handeln beim Anordnungsmodell (mehr dazu in der Infobox ganz unten).
Im Februar zogen die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) und der Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (DOJ) nach. In einem Communiqué vom Donnerstag (10.2.) schrieben sie, dass die Jugendlichen wieder Freiheiten benötigen. So sollen die Ausnahmen bei Verboten beispielsweise beim Sport auf junge Erwachsene bis 25 Jahren ausgedehnt werden. Studien würden zeigen, dass sich die Pandemie besonders negativ auf die psychische Gesundheit Jugendlicher ab 16 auswirkt.
Wir liessen vier Experten aus ihrem veränderten Arbeitsalltag seit Beginn der Corona-Krise erzählen und wie sie die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit wahrnehmen.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Lass dir helfen!
Du glaubst, du kannst eine persönliche Krise nicht selbst bewältigen? Das musst du auch nicht. Lass dir helfen.
In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen in suizidalen und depressiven Krisen da sind – vertraulich und kostenlos.
– Die Dargebotene Hand: Tel 143, www.143.ch
– Beratung + Hilfe 147 für Jugendliche: Tel 147, www.147.ch
– Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch
Joseph Selinger, Psychologe und Arzt
Joseph Selinger ist Arzt und Psychologe. Er ist Inhaber des Qurateams, das in Basel an zwei Standorten vertreten ist. Die Praxis gehört zu den grösseren. Seine Mitarbeitenden sind zu rund einem Drittel Ärzte, zu zwei Dritteln Psychologen. Die Behandlungen im Qurateam laufen über die Grundversicherung.
Joseph Selinger:
Gerade in Krisenzeiten wie der aktuellen Corona-Pandemie wird unsere Warteliste lang und länger. Je länger jemand auf eine Therapie wartet, desto höher die Chance, dass sein Problem stärker und chronisch wird. Die Möglichkeit zur Rückkehr in die Normalität wird kleiner. Um unsere bestehenden und potenziellen Patient*innen aufzufangen, schlagen wir ganz neue Wege ein. Wir bieten Patient*innen als zusätzliche Option die Onlinetherapie via Videochat, als Einzel- und als Gruppentherapie, an. In Hinblick auf eine mögliche Infektionsgefahr völlig sicher – auch für Risikopatient*innen und deren Angehörige.
Für uns ist die Onlinetherapie der richtige Weg, um eine möglichst risikofreie therapeutische Behandlung, auch während Pandemiezeiten, anbieten zu können. Zahlreiche Studien zeigen mittlerweile, dass die Ergebnisse einer face-to-face und einer Onlinetherapie als gleichwertig angesehen werden können.
Ich stehe hinter den verfügten Massnahmen des Bundesrats und hoffe trotzdem, dass die starke Zunahme von Depressionen wieder zurückgehen, wenn die Einschränkungen wegfallen. Das würde auch unseren Mitarbeiter*innen helfen, die sich untereinander kaum mehr unkompliziert unterstützen können.
Die Arbeit von uns Psychotherapeut*innen (Psycholog*innen und Psychiater*innen) wird von vielen Seiten erschwert. Umso mehr wünsche ich mir eine Minderung des hohen administrativen Aufwands, der aktuell noch betrieben werden muss, um eine Onlinetherapie über Kostengutsprachen etc. bei Krankenkassen zu beantragen. Das wäre ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, bis wir alle wieder unbeschwerter leben können.»
Die Welt aus Sicht von Kindern – in 22 Bildern
Babs Schmidt, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP
Babs Schmidt arbeitet in Basel und Zürich und führt ihre eigene Psychotherapie-Praxis. Ihr Angebot wird nicht über die Grundversicherung abgedeckt.
Ich glaube auch, dass die Corona-Pandemie bei vielen Leuten «alte Themen» berührt und diese nochmals verstärkt haben. Sie entscheiden dann, dass es mal an der Zeit wäre, sich irgendwo Unterstützung zu holen. Denn die Massnahmen halten viele von uns ab, das zu machen, was uns gut täte. So können Ängste, die eigentlich tief liegen, hoch kommen.
Diese Unwissenheit, die auch zu Angst führen kann, schwächt das Immunsystem. Die Aufhebung der Massnahmen würde da enorm entlasten, obwohl ich vermute, dass bei vielen bei Kontakten mit anderen Menschen auch danach der Impuls, lieber einen Schritt zurückzugehen und auf Abstand zu bleiben, noch etwas bleibt. Mögliche Langzeitfolgen sehe ich am ehesten bei Kindern, die noch alles auf sich beziehen und beispielsweise bei Stress der Eltern nicht erkennen, dass sie nicht der Grund dafür sind.»
Ohne Maske und Abstand: In Neuseeland feiern sie wieder Partys
Oliver Bilke-Hentsch, Präsident der VKJC
Oliver Bilke-Hentsch sieht als Präsident der Vereinigung Kinder- und pysichatrischer Chefärzte der Schweiz (VKJC) die Entwicklungen in verschiedenen Kantonen der Schweiz. Als Chefarzt KJPD der Luzerner Psychiatrie hat er zudem Einblick in 40 stationäre und 15 ambulante Plätze in Luzern sowie Obwalden und Nidwalden. Wie es seine Funktion sagt, liegt sein Fokus hier auf den Folgen für Jugendliche.
Die Gründe für die Zunahme sind unterschiedlich. Zum einen können bestehende Probleme wieder aufkommen bei Gefühlen von Sinnlosigkeit, Verzweiflung oder fehlender Zukunftsperspektive. Aktuell sind womöglich auch Zuweiser (Eltern, Lehrer, etc) affiner auf das Problem und melden sich früher. Aber auch hier gilt: Das wird aktuell untersucht.
Wir stellen das oft bei Patienten im 1./2. Lehrjahr fest oder allgemein bei den Jugendlichen zwischen 16 und 22 Jahren. Im Normalfall öffnet sich ihnen in dieser Lebensphase eine neue Welt: Sie verdienen Geld, können in den Ausgang, Konzerte besuchen, erlangen eine Freiheit – und dann wird das durch Corona alles blockiert. Sie wissen: Eigentlich hätte ich jetzt Zugang, aber es wird einem genommen. Das ist mehr als ärgerlich. Bei Älteren, wenn das Leben sich schon etwas eingependelt hat, ist das weniger ein Problem.
Der Mensch kann mit kurzfristigem Stress normalerweise gut umgehen. Aber aktuell erleben wir einen steten Wechsel zwischen Kurz- und Dauerstress. Kurzfristig fallen beispielsweise Ferien weg, langfristig fehlt eine berufliche Perspektive. Das ergibt Dauerstress. Da muss jeder versuchen, Zukunftsfreude zu schaffen und Stressfaktoren zu reduzieren.
Und dann sind auch unsere Mitarbeitenden betroffen. Die ganzen Massnahmen nehmen sie auch mit. Dabei müssen sie für ihre Patienten momentan viel Energie aufwenden können. Das ist zusammen nicht einfach. Ihnen gebührt grosser Respekt.»
Bilder beweisen: Das Leben ist schön, und Menschen sind gut
Jeanette Siegenthaler, Ernährungsdiagnostikerin
Jeanette Siegenthaler ist Ernährungsdiagnostikerin bei Erpse Institut. Sie hält den Bachelor in Ernährung und Diätetik und macht eine Ausbildung zur Familientherapeutin, was ihr in der aktuellen Situation hilft.
Wichtig ist dabei, dass man erstmal versteht, was zu Essstörungen führen kann. Bei mir melden sich mehrheitlich junge Frauen, die ein sehr starkes Sicherheits- oder Kontrollbedürfnis haben. Sie stellen an sich einen hohen Leistungsanspruch und sind oft perfektionistisch veranlagt. Durch die Pandemie und die Massnahmen geht vieles verloren: Keine Perspektive, kein Fitness, unsichere Lage bei der Ausbildung. Der Boden wird einem unter den Füssen weggezogen. Das lässt unsicher werden. Wie kompensiert man das? Man zieht dort die Zügel an, wo man es kann. Die Ernährung eignet sich da gut über Tracking Apps. Man versucht, allgemeine Unsicherheit mit persönlicher Kontrolle/Stabilität auszugleichen.
Die Mädchen melden sich teilweise selbst, teilweise läuft das auch über besorgte Eltern. Die bekommen in der jetzigen Zeit mit Homeoffice/-schooling natürlich viel mehr mit. Eine Essstörung betrifft am Ende immer die ganze Familie oder eine Partnerschaft. Unzufriedenheit mit der eigenen Figur kann der Auslöser sein, aber meist steckt eine andere psychische Erkrankung dahinter.
Den Jungen fehlen mit den Massnahmen gegen Teamsport insbesondere jetzt auch mit der dunklen Jahreszeit Möglichkeiten sich zu bewegen. Man versucht das nach Hause zu verlegen. Ich habe Fälle, in welchen die Jugendlichen abends um 22 Uhr im eigenen Zimmer an Ort und Stelle joggen.
Essstörungen enden in einem Drittel der Fälle tödlich, es ist dann eigentlich ein Selbstmord auf Raten. Man kann aber auch gut lernen, aus dem herauszukommen. Wichtig ist aber, dass man sich früh genug Hilfe holt.
Vereinfacht gesagt: Aktuell können psychologische Angebote nur über die Grundversicherung abgerechnet werden, wenn ein Arzt mit an Bord ist. Ansonsten muss der Patient mit der Zusatzversicherung einen Teil der Kosten selbst berappen. Die Plätze, welche über die Grundversicherung abgerechnet werden können, sind oft schon in «normalen» Zeiten gut besetzt.
Gemäss einer Studie im vergangenen Juni bleiben in der Schweiz rund 400'000 Personen behandlungsbedürftigen psychischen Störung unbehandelt. Was zu langen Wartefristen und hohen Folgekosten führt. Mit dem Anordnungsmodell erhofft sich die Branche rund 100'000 mehr Behandlungsplätze und glaubt an den volkswirtschaftlichen Nutzen.