In der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg schauen die National- und Ständeräte nur zu, wie der Bundesrat per Notrecht durchgreift. Im Alleingang hat die Landesregierung die Armee aufgeboten, Teile der Wirtschaft stillgelegt und der Bevölkerung Versammlungsverbote ver-ordnet. Zu keiner der Massnahmen hatte das Parlament etwas zu sagen.
Die Volksvertreter hatten sich selbst aus dem Rennen genommen, als sie ihre Frühlingssession freiwillig abbrachen. Doch nun beginnt sich unter den Parlamentariern Widerstand bereitzumachen. Immer weniger Volksvertreter wollen auf die Zuschauerränge verbannt sein.
Zu einem Bericht in der «Schweiz am Wochenende» twitterte SP-Nationalrat Fabian Molina (ZH): «Die faktische Arbeitsverweigerung ist beschämend und gefährlich.» Elisabeth Schneider Schneiter (CVP, BL) kritisierte: «Es kann nicht sein, dass sich das Parlament handlungsunfähig macht.»
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Und GLP-Nationalrat Jürg Grossen forderte umgehend Sitzungen per Videokonferenz. Der Ausserrhoder Ständerat Andrea Caroni sagt auf Anfrage: «Es beelendet mich, dass das Parlament nicht handlungsfähiger ist. Solch einschneidende Entscheide, wie sie der Bundesrat derzeit trifft, gehören so rasch als möglich vor das Parlament.»
FDP-Mann Caroni treiben staatspolitische Bedenken an. Derzeit sei man in einem «Krisenmodus mit notgedrungen autoritären Zügen», sagt er zum Umstand, dass der Bundesrat ohne Parlament und Volk Gravierendes beschliesst. «Wir müssen sobald als möglich in geordnete Bahnen zurückfinden.» Auch das Parlament könnte per Notverordnungen handeln, erst noch breiter abgestützt als der Bundesrat.
FDP-Nationalrat Kurt Fluri, der als staatspolitisches Gewissen unter der Bundeshauskuppel gilt, hat in den letzten Tagen eine deutliche «Gewaltsverschiebung zur Exekutive hin» festgestellt. Zwar sei ein Vollmachtenregime nicht untypisch für Notstandssituationen, trotzdem müsse es so rasch als möglich rückgängig gemacht werden.
Ein Beispiel, das Fluri ins Auge sticht: Der Bundesrat hat 8000 Soldaten aufgeboten, obwohl dafür ein Parlamentsbeschluss nötig wäre. Der Entscheid sei zwar nachvollziehbar. «Er entspricht aber nicht der Verfassung.»
Als «staatspolitisch komplett falsch» beurteilt SP-Nationalrat Cédric Wermuth, dass sich das Parlament per Sessionsabbruch selbst aus der Verantwortung nahm. Der Aargauer spricht von einem «überhasteten, unnötigen» Schritt.
Gerade in Krisensituationen wäre es nötig, dass «die oberste Gewalt so viel Normalbetrieb wie möglich aufrechterhält». Nun lasse man nicht nur den Bundesrat durchregieren. Auch wichtige Geschäfte wie die Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose blieben liegen. «Dabei wäre das Geschäft in einer Wirtschaftskrise extrem wichtig.»
Fluri, Caroni und Wermuth halten es für dringlich, dass zumindest die Parlamentskommissionen rasch wieder tagen. «Dort können Entscheide des Bundesrates kritisch hinterfragt werden, ohne dass in der jetzigen Situation über die Medien Kritik geübt werden müsste», sagt Wermuth.
Caroni fordert rasch eine «technische Aufrüstung», die es dem Parlament erlaube, Entscheide zu fällen, auch wenn es nicht in Bern zusammenkommen könne. «Wir erwarten von der Wirtschaft, dass sie wie selbstverständlich von einem auf den anderen Tag auf Homeoffice umschaltet. Als zentrale Institution muss das Parlament dazu umso mehr in der Lage sein.»
Hat sich das Parlament mit dem Sessionsabbruch selbst aus der Verantwortung genommen? «Absolut nicht. Wir mussten die Session abbrechen, weil im Nationalrat die dringend nötigen Hygienevorschriften nicht einhalten werden konnten,» sagt Ständeratspräsident Hans Stöckli.
Der SP-Politiker sieht die Handlungsfähigkeit des Parlamentes nach wie vor absolut gewährt. «Die Büros der beiden Räte und die Parlamentsdienste sind an der Arbeit. Wir setzen alles daran, dass unser Parlament auch jetzt funktioniert», sagt er und beginnt aufzuzählen: Heute und morgen diskutiert die Finanzdelegation das Wirtschaftspaket, das der Bundesrat am Freitag beschlossen hat.
Am Donnerstagmorgen setzen die Ratspräsidien das letzte Woche begonnene «Gespräch zwischen den Gewalten» mit einer Delegation des Bundesrates fort. Für Stöckli ist es denkbar, dass die Räte noch vor der geplanten Session Anfang Mai zu einer ausserordentlichen Parlamentssession für die wichtigsten Geschäfte einberufen werden. Zu einer solchen Session kommt es, wenn sie ein Viertel der Mitglieder eines Rates verlangt. Die Einberufung beantragen kann auch der Bundesrat.
Stöckli geht davon aus, dass die Landesregierung das diese Woche tun wird. Die Schwierigkeit dabei wird sein, Räume zu finden, in denen der Mindestabstand von zwei Metern eingehalten werden könnte. Bereits machen erste Vorschläge die Runde: Der Luzerner Ständerat Damian Müller schlug die Messe Luzern als Alternativstandort zum Bundeshaus vor.
Ständeratspräsident Hans Stöckli wendet allerdings ein, dass laut Parlamentsgesetz in Bern getagt werden muss. Finden die Sessionen ausserhalb statt, so bräuchte es im Vorfeld die Zustimmung der beiden Kammern. «Wir planen deshalb im Raum Bern», sagt Stöckli. Die Vorbereitungen seien am Laufen, sodass das Parlament seine Kompetenzen rasch wieder wahrnehmen könne. «Das muss gut kommen», so Stöckli.
Clint Bois d‘Est
Hypnos350
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