Die Ausbreitung von Omikron- und Delta-Viren wurde im Tierexperiment gemessen: Es wurden Hamster und Mäuse mit beiden Viren in gleich grosser Menge angesteckt. Das Ergebnis: Schon nach drei Tagen hatte die Delta-Variante Omikron in den Körpern der Tiere verdrängt. Das heisst, Delta könnte sich eigentlich schneller verbreiten als Omikron – wenn eben das mit der Immunität nicht wäre.
Ja. Obwohl Omikron sich eigentlich langsamer verbreiten würde, hat die Variante in einer breit geimpften und genesenen Bevölkerung einen Vorteil. So wurde Delta komplett verdrängt. Dies zeigt eine noch ungeprüfte Studie um den Schweizer Virologen Volker Thiel und Tuba Barut von der Universität Bern.
Auch Epidemiologe Christian Althaus vermutet, dass Omikron hauptsächlich deshalb «ansteckender» ist, weil es die bestehende Immunität gut umgehen kann. Die extrem rasche Verbreitung ist demnach nicht einer viel höheren Basisreproduktionszahl R0 als bei Delta (R0 zirka 6) geschuldet. (Zahl bezieht sich auf Bevölkerung ohne Immunität.)
Die Schätzungen, wie viele Leute sich im Winter mit BA.1 oder BA.2 infiziert haben, liegen bei 60 bis 80 Prozent (Christian Althaus/Tanja Stadler). Der tatsächliche R-Wert sank am Ende der Omikron-Winterwelle in der Folge auf 0.8. Wann immer dieser Wert unter 1 liegt, sinkt die Infektionskurve, weil ein Erkrankter im Durchschnitt weniger als einen anderen neu ansteckt.
BA.5 aber hat den R-Wert laut Christian Althaus auf 1.4 getrieben und so die Sommerwelle gestartet. In der jetzigen Bevölkerung mit den bestehenden Immunitäten kann BA.5 also fast doppelt so viele Leute anstecken wie BA.2. Deshalb gibt es aktuell bereits mehr BA.5-Infektionen als solche mit BA.2.
Althaus schätzt, dass immerhin noch etwa 65 Prozent der Bevölkerung auch gegen BA.5 genügend Immunität haben, sodass sie sich nicht anstecken werden. «Ich erwarte, dass sich rund 15 Prozent der Bevölkerung der Schweiz mit BA.5 anstecken werden, bis der R-Wert wieder auf 0.8 sinkt», so der Epidemiologe. Die Immunität gegenüber BA.5 wäre dann auf 80 Prozent gestiegen.
Diese Welle wird in der Schweiz mit Sicherheit nicht so dramatisch wie die Omikron-Winterwelle, bezogen auf die ganze Bevölkerung und die Spitäler. Im Einzelfall kann jemand immer noch schwer erkranken und auch das Risiko von Long Covid bleibt bestehen. Die Übersterblichkeitsstatistiken verschiedener Länder deuten zudem darauf hin, dass womöglich die Sterblichkeit auch noch nach der Genesung erhöht ist.
Vermutlich stimmt das nach wie vor. Bloss hat die Omikron-Welle in den meisten Ländern wegen der rekordhohen Ansteckungszahlen in kurzer Zeit dennoch mehr Todesopfer gefordert. So verzeichnete die USA fast gleich viele Coronatoten innerhalb nur vier Monate Omikron-Herrschaft, wie das Land während sechs Monaten mit Delta hatte.
Zudem sieht es danach aus, als hätte Omikron seine Pathogenität, also die Kraft, wie sehr es krank machen kann, mit jeder Untervariante gesteigert: Die Autoren einer englischen Studie um Matthew Whitaker von Ende Mai schreiben, eine Infektion mit Omikron BA.2 bedeute mehr Symptome, welche den Alltag stärker beeinträchtigten als eine Infektion mit BA.1.
Bei BA.5 fürchtet man eine erneut höhere Pathogenität, weil im Labor nachgewiesen wurde, dass die Untervariante sich in den menschlichen Zellen der Lungenbläschen schneller vermehrt. Zudem führte eine Infektion mit BA.5 im Vergleich mit BA.2 zu mehr Entzündungen in den Lungen von Hamstern.
Die Epidemiologen und Virologen haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Sars-CoV-2 eine saisonale Atemwegsinfektion wird. Also eine, bei der es nur im Winter zu einer Ansteckungswelle kommt – im besten Fall sogar nur jeden zweiten Winter zu einer grossen Welle.
Christian Althaus stützt sich auf eine niederländische Studie, gemäss der man sich mit den Coronaviren im Schnitt alle drei Jahre infiziert. Auf Nachfrage präzisiert er, dass sich die drei Jahre nicht auf die Immunität beziehen, sondern auf die durchschnittliche Dauer zwischen zwei Infektionen. «Die Immunität geht im Durchschnitt wohl bereits nach etwa zwei Jahren verloren. Danach dauert es vielleicht nochmals etwa ein Jahr, bis man sich die Infektion einfängt.» Bei manchen Leuten gehe die Immunität etwas früher verloren, bei anderen später. Und auch das Kontaktverhalten beeinflusst das Risiko einer erneuten Infektion.
For a duration of immunity of 6 months, we see that #SARSCoV2 would reach the typical seasonal pattern but incidence doesn’t change much between summer and winter. This roughly reflects the current situation where we don’t have long-term immunity to infection (yet). 5/10 pic.twitter.com/1OX7jyy9Fy
— Christian Althaus (@C_Althaus) June 14, 2022
Die Forschenden dieser «Nature»-Studie untersuchten Blutproben von HIV-Patienten in Amsterdam, die über 23 Jahre gesammelt worden waren. Dabei wurden Neuinfektionen mit einem der drei bereits kursierenden Coronaviren nach sechs Monaten bis acht Jahren beobachtet – häufig war eine Neuinfektion nach einem Jahr, der Median lag bei knapp drei Jahren. Althaus erwartet, dass sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren ein Muster bei Sars-CoV-2-Infektionswellen ergibt.
Das hat vermutlich damit zu tun, dass sich die Abwehr in den Nasen- und Rachenschleimhaut erst nach und nach aufbaut. Diese sogenannte Schleimhautimmunität verhindert zum Beispiel auch bei Grippeviren, dass es in vielen Fällen gar nicht erst zu einer Infektion kommt. Laut dem Berliner Virologen Christian Drosten braucht es mehrere durchgemachte Infektionen, bis sich auch auf der Nasen- und Rachenschleimhaut eine Barriere gegen Erreger bildet.
Einige Ärzte beunruhigt diese Aussicht aber, weil sie bei einzelnen Patienten bei wiederholten Infektionen schwerere statt mildere Symptome beobachten. Solche für die Schleimhautimmunität nötigen Mehrfach-Infektionen könnten bei gewissen Personen die Krankheitslast erhöhen. Das ist jedoch nicht die Regel.