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Coronavirus

Corona-Virus Schweiz: Haben wir 500-600 Tote mehr als kommuniziert?

epa08347757 Several piled-up coffins are ready to be transported at Ataudes Galicia workshop in the village of Pinor, in Ourense, northwestern Spain, 07 April 2020. Coffin makers are overcome by the h ...
Särge stapeln sich in Pinor, Spanien. Aufgrund der vielen Covid-19-Opfer ist die Nachfrage enorm. Bild: EPA

Hat die Schweiz 500-600 Covid-19-Opfer mehr als offiziell ausgewiesen?

22.04.2020, 19:0522.04.2020, 19:05
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Wie viele Menschen das Coronavirus in sich tragen – oder trugen – ist unbekannt. Auch Schätzungen über die Höhe der Dunkelziffer gehen weit auseinander. Bis ein zuverlässiger Antikörper-Test gefunden wurde, wird das auch so bleiben.

Doch auch bei den Opferzahlen sind die Angaben weit weg von präzise. In der Stadt New York zum Beispiel wurden nur jene Fälle offiziell erfasst, bei denen die Patienten in einem Spital verstarben und vorgängig positiv getestet wurden. Wer ohne positiven Test oder zuhause dem Corona-Virus erlag, taucht in der offiziellen Statistik nicht auf. New York hat seine Opferzahlen deswegen anpassen müssen – um 3778 Fälle. Auch die Statistik für die chinesische Stadt Wuhan wurde im Nachhinein um 1290 Todesopfer ergänzt.

epa08319599 A patient potentially infected with Covid-19 on a stretcher is taken by medical staff wearing protective suits at CHU Saint-Pierre hospital in Brussels, Belgium, 24 March 2020. In order to ...
Ein Covid-19-Patient wird in Brüssel ins Spital gebracht. Belgien hat die höchste Corona-Pro-Kopf-Sterblichkeit der Welt. Das kann auch mit der Erfassung der offiziellen Opfer zu tun haben. Bild: EPA

Das Problem beginnt bereits bei der Definition von «Covid-19-Opfer». Was ist mit den Personen, die aufgrund der Überbelastung des Gesundheitsystems keine Spitalbehandlung erhalten konnten – und deshalb ihrem Leiden erlagen? Zum Beispiel einem geplatzen Blinddarm, der nicht genug schnell behandelt werden konnte?

Datenjournalisten der «New York Times» haben einen Weg gefunden, sich den Covid-Opferzahlen wenigstens anzunähern. Sie verglichen die durchschnittliche Zahl der Todesfälle in den entsprechenden Monaten der letzten Jahre mit der Anzahl Verstorbener in diesem Jahr. Von der Differenz subtrahierten sie die Anzahl offizieller Covid-19-Fälle. Die restlichen Fälle ergeben einen unerklärlichen Ausreisser in der Statistik – die potentielle Dunkelziffer.

Im Fall der Schweiz bedeutet das: Hierzulande verstarben zwischen dem 9. März und dem 5. April 2020 1000 Menschen (oder 21%) mehr als im Durchschnitt der letzten Jahre. Nur 712 davon wurden als offizielle Covid-19-Opfer ausgewiesen. Doch was ist mit dem anderen 288?

epa08364989 Biohazard suits are seen in a garage bay an at the District of Columbia Fire and Emergency Medical Services Department's (DC Fire and EMS) decontamination facility, in Washington, DC, ...
Sicherheitsanzüge der Feuerwehr des Districs of Columbia.Bild: EPA

Auch wenn die Mortalität 2020 grundsätzlich höher sein sollte – eine derart starke Abweichung (6 Prozent) vom Durchschnitt der letzten Jahre wirft Fragen auf. Die New-York-Times-Journalisten kommen zum Schluss: Die Grosszahl dieser Fälle muss dem Virus zugeschrieben werden.

Für die Schweiz bedeutet dies, dass die Dunkelziffer bei den Covid-19-Todesfällen bis zu 28% betragen kann (288 von 1000). Damit wären hierzulande nicht – wie offiziell ausgewiesen – 1479 Personen dem Virus zum Opfer gefallen (Stand 22.4.2020), sondern eher 2000 bis 2100 (1479 + 575).

Die «New York Times» untersuchte neben der Schweiz sieben weitere Länder und zwei Städte. In allen Gebieten wurde eine hohe Differenz zwischen der aktuellen Mortalität unter Berücksichtigung der offiziellen Covid-19-Zahlen und der durchschnittlichen Mortalität der letzten Jahre festgestellt. Spanien hat für denselben Untersuchungszeitraum rund 7000 Tote «zu viel» zu beklagen, England 6300.

Etwas zu bemängeln ist, dass die «New York Times» nicht angibt, welche Jahre für den Durchschnittswert berücksichtigt werden. Die Anzahl Todesfälle hat in der Schweiz in absoluten Zahlen in den letzten Jahren zugenommen – aufgrund von Veränderungen der Demographie. Auch die Standardabweichung wird von der NYT nicht berücksichtigt. Zur besseren Einschätzung wären diese Angaben nützlich gewesen.

Grundsätzlich aber gilt festzuhalten: Auch bei den Todesfällen gibt es eine Dunkelziffer. Und sie fällt wohl höher als, als uns lieb sein kann.

(tog)

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28 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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cheesy_
22.04.2020 20:33registriert Januar 2018
Ist es nicht so, dass wir, von Corona abgesehen, etwas weniger Tote als in einem Normaljahr erwarten können? Durch den Lockdown sollten ja auch andere ansteckende Krankheiten (z.B die Grippe) aufgehalten werden und auch Autounfälle gibt es weniger.
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Garp
22.04.2020 19:45registriert August 2018
Die anderen 288 können Menschen sein, die sich aus Angst vor Corona nicht rechtzeitig beim Arzt oder Notruf meldeten, obwohl immer dazu aufgerufen wurde.
Ob diese 288 im KH starben im Notfall, weil sie nicht schnell genug behandelt werden konnten, wird man wohl eruieren können. Man kann zudem die Zahlen der Todesursachen vergleichen, die ja gestellt werden müssen. Ich glaub nicht dass die NY Times dazu Zugang hat.
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hansguckindieluft
22.04.2020 22:16registriert Februar 2019
Datenjournalisten der NY Times machen eine Milchbüechli Rechnung ohne klare Methodik (Angabe zum Vergleichsjahr fehlt anscheinend ja) und das Ergebnis soll dann eine Klarheit schaffen? Find ich kritisch..
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