Schweiz
Deutschland

Corona-Triage: Warum Behinderte in der Schweiz nun ein Gesetz fordern

SCHWEIZ CORONAVIRUS UNIVERSITAETSSPITAL ZUERICH
Die Triage Zone Rettungsdienst auf dem Notfall des Universitaetsspital USZ, fotografiert am 19. November 2020 in Zuerich. (KEYSTONE/Christian Beutler)
Die Triage-Zone Rettungsdienst auf dem Notfall des Universitätsspitals Zürich.Bild: keystone

«Wir sollten keine Angst haben, bei einer Triage den Kürzeren zu ziehen»

Bei einer Corona-Triage könnten sie das Nachsehen haben, befürchten Menschen mit einer Behinderung. Die Organisation Tatkraft fordert nun mehr Schutz. Bei Ärzten kommt das nicht gut an.
31.12.2021, 19:1831.12.2021, 20:30
Vanessa Hann
Folge mir
Mehr «Schweiz»

«In der Schweiz fehlen rechtliche Grundlagen für Triage-Entscheidungen. Damit ist nicht sichergestellt, dass Menschen mit Behinderung in den überfüllten Spitälern nicht diskriminiert werden», schreibt Islam Alijaj auf Twitter. Der Präsident der Behindertenorganisation namens «Tatkraft» will das nun ändern. Zusammen mit anderen betroffenen Menschen und deren Angehörigen richtet er einen offenen Brief an den Bundesrat: Ein Gesetz soll Abhilfe schaffen.

Heute sind in der Schweiz die Richtlinien «Triage in der Intensivmedizin bei ausserordentlicher Ressourcenknappheit» massgebend. Sie sind eine Hilfestellung, wonach Patientinnen und Patienten im Triage-Fall priorisiert behandelt werden sollen. Herausgegeben hat sie die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

«Es kann den Tod bedeuten, wenn die Überlebenschancen aufgrund der Behinderung falsch eingeschätzt werden.»
Islam Alijaj, Präsident Verein Tatkraft

Diese «Empfehlungen» seien nicht genug verbindlich, findet Alijaj. «Wir sind dem Goodwill der Ärzt:innen ausgesetzt, ob sie uns Menschen mit Behinderungen in der Triage-Situation die lebensnotwendige Unterstützung bieten», so der Handicap-Lobbyist. «Es kann den Tod bedeuten, wenn die Überlebenschancen aufgrund der Behinderung falsch eingeschätzt werden.»

Was ist eine Triage?
Mit Triage ist der Extremfall gemeint, in dem die Intensivmedizinerinnen und -mediziner entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht. Das kann passieren, weil beispielsweise zu viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Spitäler kommen, sodass es nicht genug Intensivbetten gibt.

Persönlich musste Alijaj während der Corona-Pandemie nicht ins Spital. Allerdings gäbe es viele, die das regelmässig tun müssten. «Niemand sollte Angst haben, bei einer Triage-Situation den Kürzeren ziehen zu müssen, nur weil er behindert ist.»

Humbel will Diskussion

Die Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel versteht das Anliegen. «Man soll aufgrund einer Behinderung nicht einer Triage zum Opfer fallen», so die Mitte-Nationalrätin, die im Jahr 2021 der gesundheitspolitischen Kommission der grossen Kammer präsidiert hat.

Ob ein Gesetz notwendig ist, um Betroffene vor einer Diskriminierung zu schützen, will Humbel jedoch offen lassen. «Es ist schwierig, in solchen Belangen eine gesetzliche Grundlage zu schaffen.» Allerdings sei eine politische und gesellschaftliche Diskussion über das Thema Corona-Triage bitter nötig. «Es kann nicht sein, dass Ungeimpfte bei der Triage gegenüber Krebs-Patienten oder Menschen mit Behinderung bevorzugt behandelt werden», so Humbel.

Triage wird mit Omikron ernst

Das Anliegen von Alijaj ist brisant: Die wissenschaftliche Taskforce des Bundes befürchtet in den kommenden Wochen volle Intensivstationen. Man erwarte demnächst um die 20'000 Coronavirus-Ansteckungen pro Tag, erklärte Taskforce-Chefin Tanja Stadler am Dienstag vor den Medien in Bern. In Luzern bereiten sich die Spitäler bereits auf den Notfall vor.

Zurzeit sorgt das Triage-Thema auch in Deutschland für Aufregung. Am Dienstag hat nämlich das Bundesverfassungsgericht den Bundestag dazu verdonnert, ein Gesetz zum Schutz von Behinderten auszuarbeiten. Es hat damit der Beschwerde von Menschen mit Behinderung stattgegeben, die mit den gleichen Gründen argumentiert haben, wie es Islam Alijaj und seine Organisation jetzt in der Schweiz tun.

«Wir wollen nicht, dass der Richter mit am Bett des Patienten sitzt.»
Uwe Janssens, deutscher Intensivmediziner

Dagegen hat sich Kritik erhoben. Der deutsche Intensivmediziner Uwe Janssens sagte gegenüber dem «Deutschlandfunk»: «Wir wollen nicht, dass der Richter mit am Bett des Patienten sitzt».

Janssens ist der ehemalige Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) – dem Äquivalent in Deutschland zur SAMW. Er befürchtet hinter den Sorgen der behinderten Menschen ein Missverständnis der Triage-Richtlinien. «Unsere höchste Prämisse in der Medizin ist die Gleichbehandlung. Der Fakt, ob jemand auf einem Rollstuhl oder auf andere Art behindert ist, spiele keine Rolle», so Janssens.

«Kein Gesetz der Welt kann abbilden, was sich an einem Krankenbett abspielt.»
Uwe Janssens

Weiter betont der Mediziner die Grenzen der Rechtsetzung. «Kein Gesetz der Welt kann abbilden, was sich an einem Krankenbett abspielt.» Dem Behandlungsteam müsse das Vertrauen entgegengebracht werden, dass es Befunde zusammenführt und daraus eine klinische Erfolgsaussicht ableitet.

Ein Gesinnungswechsel?

Interessant bei dieser Thematik dürfte sein, dass in der Schweiz bereits ein entsprechender politischer Vorstoss gemacht wurde: Im Dezember 2020 verlangte Ständerätin Maya Graf (Grüne), dass der Bundesrat prüfen sollte, ob die bestehenden Gesetze gewährleisten, dass bei Triage-Entscheidungen Menschen nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung des Anliegens.

Graf hätte die Angelegenheit weiterziehen können. Darauf verzichtete die Co-Präsidentin von «Inclusion Handicap» allerdings, nachdem die SAMW ihre Richtlinien im Sinne der Behindertenorganisationen geändert hat. Graf zog ihren Antrag zurück und äusserte sich sogar als zufriedengestellt.

Nachdem das Thema mit dem Urteil in Deutschland wieder aufgekommen war, sah es offenbar anders aus. Am Dienstag sagte Graf gegenüber «SRF News», dass sie ihr Anliegen nochmals aufnehmen wolle. «Es braucht politisch breit abgestützte, rechtliche Grundlagen. Sie würden dem Personal vor Ort, das in einer Triage-Situation entscheiden muss, eine rechtliche Sicherheit geben.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die besten Rollstuhl-Verkleidungen
1 / 20
Die besten Rollstuhl-Verkleidungen
Und der Preis für das beste Cosplay mit einem Rollstuhl geht an den Schwarzen Ritter aus Monty Pythons «Die Ritter der Kokosnuss».
quelle: reddit
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Mit dieser Technologie können Blinde das Internet ertasten
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
106 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Alter Mann
31.12.2021 20:13registriert September 2020
Es passiert hier etwas was eigentlich nicht sein kann. Den Ärzten wird generell die Diskriminierung von Behinderten unterstellt. Die Agitatoren, die hinter diesem Vorstoss wohl aus populärer Selbstsucht stehen, sollten sich schämen. Ich denke dass kein Arzt die Diskriminierung von irgend welchen Gruppen vorhat, nicht einmal von der Gruppe der Impfverweigerer. Im Gegenteil die Ärzte werden, falls es zu Triageentscheidungen kommt, nach ihren Vorgaben und nach ihren zum Entscheidungzeitpunkt besten verfügbaren Wissen entscheiden.
28629
Melden
Zum Kommentar
avatar
Aspirin
31.12.2021 21:49registriert Januar 2015
Die Triagekriterien der SAMW sind sehr objektiv und m.E. nach nicht diskriminierend, da sie auf der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit und Ressourcenbedarf basieren. Hier werden Behinderte nicht diskriminiert.
Anstatt uns bei der Triage dreinzureden, sollten sich die Politiker lieber bemühen, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Wir können das schon, werden das fachlich korrekt tun, und später damit leben müssen.
Und bis die Politik entsprechende Gesetze inkl. Referendum erlassen hat, ist es wahrscheinlich eh 2024.
825
Melden
Zum Kommentar
avatar
Butschina
31.12.2021 21:25registriert August 2015
Ich habe mir die geltenden Triagerichtlinien angesehen. Als Mensch mit Behinderung habe ich nicht Angst, dass diese den Entscheid im Falle einer Triage beeinflussen würde.
Menschen, die auf Grund ihrer Behinderung nicht selber für sich sprechen können, haben Bezugspersonen die bevollmächtigt sind in medizinischen Belangen für die Person einzustehen. Ich gehe davon aus, dass diese Personen allfällige Infos die nötig wären den Ärzten mitteilen.
Ich traue den Ärzten zu keine leichtfertigen Entscheide zu treffen und hoffe sie müssen nicht triagieren.
642
Melden
Zum Kommentar
106
SBB-Chef Vincent Ducrot: «Es muss nicht unbedingt alles mit der Bahn erreichbar sein»
Die SBB wollen bis 2040 klimaneutral werden. Konzernchef Vincent Ducrot erklärt im Interview, wie sie das erreichen möchten und weshalb Züge oft nicht mit dem Individualverkehr mithalten können.

Herr Ducrot, die SBB möchten das klimafreundliche Reisen mit über 200 Massnahmen fördern. Welche fällt ins Gewicht?
Vincent Ducrot:
Wir wollen bis 2040 klimaneutral werden. Ohne Kompensation. Das geht nur durch ein Zusammenspiel verschiedener Massnahmen wie neuere und effizientere Züge und die komplette Umstellung auf erneuerbare Energie. Aktuell fahren Züge der SBB zu 90 Prozent mit Strom aus Wasserkraft und zu 10 Prozent aus Kernkraft. Das wird sich bereits 2025 ändern.

Zur Story