«In der Schweiz fehlen rechtliche Grundlagen für Triage-Entscheidungen. Damit ist nicht sichergestellt, dass Menschen mit Behinderung in den überfüllten Spitälern nicht diskriminiert werden», schreibt Islam Alijaj auf Twitter. Der Präsident der Behindertenorganisation namens «Tatkraft» will das nun ändern. Zusammen mit anderen betroffenen Menschen und deren Angehörigen richtet er einen offenen Brief an den Bundesrat: Ein Gesetz soll Abhilfe schaffen.
Heute sind in der Schweiz die Richtlinien «Triage in der Intensivmedizin bei ausserordentlicher Ressourcenknappheit» massgebend. Sie sind eine Hilfestellung, wonach Patientinnen und Patienten im Triage-Fall priorisiert behandelt werden sollen. Herausgegeben hat sie die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).
Diese «Empfehlungen» seien nicht genug verbindlich, findet Alijaj. «Wir sind dem Goodwill der Ärzt:innen ausgesetzt, ob sie uns Menschen mit Behinderungen in der Triage-Situation die lebensnotwendige Unterstützung bieten», so der Handicap-Lobbyist. «Es kann den Tod bedeuten, wenn die Überlebenschancen aufgrund der Behinderung falsch eingeschätzt werden.»
Persönlich musste Alijaj während der Corona-Pandemie nicht ins Spital. Allerdings gäbe es viele, die das regelmässig tun müssten. «Niemand sollte Angst haben, bei einer Triage-Situation den Kürzeren ziehen zu müssen, nur weil er behindert ist.»
Die Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel versteht das Anliegen. «Man soll aufgrund einer Behinderung nicht einer Triage zum Opfer fallen», so die Mitte-Nationalrätin, die im Jahr 2021 der gesundheitspolitischen Kommission der grossen Kammer präsidiert hat.
Ob ein Gesetz notwendig ist, um Betroffene vor einer Diskriminierung zu schützen, will Humbel jedoch offen lassen. «Es ist schwierig, in solchen Belangen eine gesetzliche Grundlage zu schaffen.» Allerdings sei eine politische und gesellschaftliche Diskussion über das Thema Corona-Triage bitter nötig. «Es kann nicht sein, dass Ungeimpfte bei der Triage gegenüber Krebs-Patienten oder Menschen mit Behinderung bevorzugt behandelt werden», so Humbel.
Das Anliegen von Alijaj ist brisant: Die wissenschaftliche Taskforce des Bundes befürchtet in den kommenden Wochen volle Intensivstationen. Man erwarte demnächst um die 20'000 Coronavirus-Ansteckungen pro Tag, erklärte Taskforce-Chefin Tanja Stadler am Dienstag vor den Medien in Bern. In Luzern bereiten sich die Spitäler bereits auf den Notfall vor.
Zurzeit sorgt das Triage-Thema auch in Deutschland für Aufregung. Am Dienstag hat nämlich das Bundesverfassungsgericht den Bundestag dazu verdonnert, ein Gesetz zum Schutz von Behinderten auszuarbeiten. Es hat damit der Beschwerde von Menschen mit Behinderung stattgegeben, die mit den gleichen Gründen argumentiert haben, wie es Islam Alijaj und seine Organisation jetzt in der Schweiz tun.
Dagegen hat sich Kritik erhoben. Der deutsche Intensivmediziner Uwe Janssens sagte gegenüber dem «Deutschlandfunk»: «Wir wollen nicht, dass der Richter mit am Bett des Patienten sitzt».
Janssens ist der ehemalige Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) – dem Äquivalent in Deutschland zur SAMW. Er befürchtet hinter den Sorgen der behinderten Menschen ein Missverständnis der Triage-Richtlinien. «Unsere höchste Prämisse in der Medizin ist die Gleichbehandlung. Der Fakt, ob jemand auf einem Rollstuhl oder auf andere Art behindert ist, spiele keine Rolle», so Janssens.
Weiter betont der Mediziner die Grenzen der Rechtsetzung. «Kein Gesetz der Welt kann abbilden, was sich an einem Krankenbett abspielt.» Dem Behandlungsteam müsse das Vertrauen entgegengebracht werden, dass es Befunde zusammenführt und daraus eine klinische Erfolgsaussicht ableitet.
Interessant bei dieser Thematik dürfte sein, dass in der Schweiz bereits ein entsprechender politischer Vorstoss gemacht wurde: Im Dezember 2020 verlangte Ständerätin Maya Graf (Grüne), dass der Bundesrat prüfen sollte, ob die bestehenden Gesetze gewährleisten, dass bei Triage-Entscheidungen Menschen nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung des Anliegens.
Graf hätte die Angelegenheit weiterziehen können. Darauf verzichtete die Co-Präsidentin von «Inclusion Handicap» allerdings, nachdem die SAMW ihre Richtlinien im Sinne der Behindertenorganisationen geändert hat. Graf zog ihren Antrag zurück und äusserte sich sogar als zufriedengestellt.
Nachdem das Thema mit dem Urteil in Deutschland wieder aufgekommen war, sah es offenbar anders aus. Am Dienstag sagte Graf gegenüber «SRF News», dass sie ihr Anliegen nochmals aufnehmen wolle. «Es braucht politisch breit abgestützte, rechtliche Grundlagen. Sie würden dem Personal vor Ort, das in einer Triage-Situation entscheiden muss, eine rechtliche Sicherheit geben.»
Anstatt uns bei der Triage dreinzureden, sollten sich die Politiker lieber bemühen, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Wir können das schon, werden das fachlich korrekt tun, und später damit leben müssen.
Und bis die Politik entsprechende Gesetze inkl. Referendum erlassen hat, ist es wahrscheinlich eh 2024.
Menschen, die auf Grund ihrer Behinderung nicht selber für sich sprechen können, haben Bezugspersonen die bevollmächtigt sind in medizinischen Belangen für die Person einzustehen. Ich gehe davon aus, dass diese Personen allfällige Infos die nötig wären den Ärzten mitteilen.
Ich traue den Ärzten zu keine leichtfertigen Entscheide zu treffen und hoffe sie müssen nicht triagieren.