Was bei der Hotellerie und bei den Flugpreisen längst Realität ist, hält auch im Detailhandel Einzug: Angebote, die auf das individuelle Nutzerverhalten zugeschnitten sind. Die Migros experimentiert seit Anfang September bei Cumulus-Karten-Besitzern mit einem Pilotprojekt, das das persönliche Einkaufsverhalten mit Rabatten belohnt.
Der Clou: Mittels Erfassung der Konsumgewohnheiten kann der Detailhändler seinen Kunden ein massgeschneidertes Angebot vorlegen – und laut Experten gleichzeitig von Ertragssteigerungen von bis zu 10 Prozent profitieren. Das ruft Kritiker auf den Plan. Die angeblichen individuellen Rabatte seien nichts anderes als individuelle Preise. Was auf den ersten Blick nach einem guten Deal für den Kunden aussieht, hat tatsächlich seine Tücken. Wer reich ist, bezahlt effektiv mehr, so die Befürchtung. Auch die angeblich zu laschen Datenschutzbedingungen lösen Bedenken aus.
Jetzt fährt die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) schweres Geschütz auf: In einem offenen Brief an Migros-CEO Herbert Bolliger prangert sie die Praktiken der Genossenschaft an und fordert Transparenz. Es gehe nicht an, dass die Rabattaktionen nicht sauber deklariert würden. Zwar verspreche die Migros Transparenz bezüglich der Verarbeitung der Cumulus-Kundendaten. Allerdings gehe nicht klar hervor, dass genau diese Daten für Gutscheine, Coupons und Cumulus-Aktionen genutzt werden.
Die Migros weist die Vorwürfe zurück. Mit Geheimnistuerei habe das nichts zu tun, schreibt CEO Bolliger in einer Replik auf den offenen Brief des SKS. Im Gegenteil würde Transparenz bei der Migros grossgeschrieben: So sei die Einführung des personalisierten Marketings vorgängig im hauseigenen Magazin kommuniziert worden. Auch habe jeder Cumulus-Karten-Besitzer zugestimmt, dass seine Daten für personalisierte Angebote genutzt werden.
Im Interview mit watson doppelt Sara Stalder, Geschäftsleiterin der SKS, nach. Die Kundenkarten gaukelten den Konsumenten einen Gewinn vor, dabei seien die Daten, die Migros sammle, ein Vielfaches der Rabatte wert. «Die Kunden werden hier über den Tisch gezogen», so das Fazit der Konsumentenschützerin. Stalder hofft, dass die hängige Revision des Datenschutzgesetzes die Sammelwut der Detailhändler bremse und gleich lange Spiesse für Unternehmen und Konsumenten schaffe.
Die Konsumentenschützerin zeigt sich zuversichtlich, dass die Kunden den Detailhändler abstrafen werden. Demgegenüber verweist Migros-Sprecher Luzi Weber auf die positiven Rückmeldungen: «Die Kunden freuen sich über die massgeschneiderten Angebote und lösen die entsprechenden Coupons ein.»
Frau Stalder, was haben Sie am System der personalisierten Angebote auszusetzen?
Sara Stalder: Das
System basiert darauf, dass der Kunde beim Einkaufen mit der
Cumulus-Card oder Supercard in Hülle und Fülle Daten abgibt. Diese
werden dazu verwendet, dem Kunden ein massgeschneidertes Angebot zu
präsentieren. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass die
Detailhändler weitere Datensätze hinzukaufen. So wird der Kunde
vollkommen gläsern. Dabei wird mit Algorithmen gearbeitet, die
niemand nachvollziehen kann. Die Detailhändler können die Vorlieben
der Kunden haarklein aus Tausenden von persönlichen Datensätzen
herausfiltern.
Was
ist schlecht an individuellen Rabatten? Immerhin spart der Kunde so
Geld?
Rabatte
sind nichts anderes als eine schönfärberische Bezeichnung für individualisierte Preise. Diese sind grundsätzlich problematisch,
bei Alltagsprodukten wird es aber richtig undurchsichtig und damit
manipulativ, weil man als Kunde keine Vergleichsmöglichkeiten mehr
hat. Zum gleichen Zeitpunkt X kostet das Toilettenpapier für Frau
Müller mehr als für Herrn Kunz. Ohne dass Herr Kunz oder Frau
Müller davon wissen.
Wieso
ist das so gefährlich?
Weil
intransparente Preise in der Regel dazu führen, dass der Händler
das Preisgefüge erhöht – ohne dass man als Kunde etwas davon
erfährt. Gleichzeitig wird man als Kunde dazu animiert, mehr zu
kaufen, weil einem Rabatte für alles mögliche angezeigt werden –
vom Putzlappen bis zum Brot.
Hotellerie
und Fluganbieter gestalten ihre Preise schon länger flexibel. Wieso
sollte der Detailhandel hier nicht nachziehen dürfen?
Da
gibt es einen wesentlichen Unterschied. Es stimmt zwar, dass Hotel-
und Flugpreise stark schwanken, also dynamisch sind. Aber im
Unterschied zu dem Trend, den wir jetzt im Detailhandel beobachten,
sind die Preise nicht personalisiert. Das heisst, die Preise
verändern sich zwar über die Zeit, ohne dass man als Konsument
genau weiss, warum. Aber immerhin ändern sie sich in der Regel für
alle gleich. Das ist in gewissem Mass nachvollziehbar. Zum gleichen
Zeitpunkt bezahlen alle Leute den gleichen Preis für den gleichen
Flug. Aber klar: Die Intransparenz ist auch bei den Hotel- und
Fluganbietern riesig, als Konsument kann man das ebenfalls dort nicht
nachvollziehen.
Sie
fordern in einem offenen Brief die Migros zur Transparenz auf. Die
Migros kontert, dass sie Transparenz bereits gewährleiste ...
Ja,
im Kleingedruckten ist das festgehalten. Aber wer, bitte schön,
liest vor einem Einkauf auf der Migros-App die AGB? Das Perfide ist,
dass die Kundenkarten als gute Sache, als Gewinn für den Konsumenten
abgegeben werden. Über die Jahre konnte man das in die Köpfe der
Kunden einhämmern: ‹Wenn ihr unsere Karten im Portemonnaie habt,
dann gewinnt ihr.› Was passiert in der Realität? Die Leute
verscherbeln ihre Daten zum Nulltarif. Und die Unternehmen kennen die
Menschen mittlerweile besser, als sie sich selber kennen. Denn
Datenbanken haben ein unendliches Fassungs- und Erinnerungsvermögen.
Man
könnte behaupten: Wer sich eine Kundenkarte zulegt, ist sich
bewusst, dass er damit einen Teil seiner Daten abgibt. Dafür
profitiert er von den Rabatten.
Erstens
sind sich die Leute ganz und gar nicht bewusst, dass sie bei jedem
Einkauf ihre wertvollen Daten verramschen. Und zweitens entsprechen
all die Aktionen niemals dem Gegenwert der Daten. Als Kunde wird man
diesbezüglich über den Tisch gezogen: Die Detailhändler
profitieren von riesigen Mengen an topaktuellen, genauen Kundendaten,
die Kundschaft erhält dafür keinen Gegenwert. Das ist Fakt.
Dennoch:
Müssen wir uns nicht auch selber ins Gebet nehmen? Wir gehen doch
extrem leichtfertig mit unseren Daten um ...
Ja,
da herrscht oftmals noch ein «analoges» Denken, also eine gewisse
Sorglosigkeit, vor, das stimmt. Aber wir sind im Online-Zeitalter
angekommen, das Recht auf Vergessen müsste auch für digitale Daten
gelten. Es braucht insgesamt mehr Wissen über die Datennutzung und
ein Empowerment der Nutzer.
Wo
kann man hier ansetzen?
Es
braucht Datensparsamkeit – und die höchste Einstellung beim
Datenschutz. Anstatt in eine Sammelwut zu verfallen, sollten die
Unternehmen dazu angehalten werden, die notwendigen Daten zu erfassen
– und den Nutzer um Erlaubnis fragen, um die Daten weitergeben zu
können.
Können
Sie ein Beispiel für die erwähnten Datenschutzeinstellungen
geben?
Nehmen
wir das Beispiel Facebook. Wenn Sie als Facebook-User die höchste
Privatsphäre wollen, dann müssen Sie in mühsamer Kleinarbeit
eineinhalb Stunden die richtigen Stellen suchen und Häkchen setzen.
Hier sollte von Anfang an die höchste Datenschutzeinstellung
installiert sein. Wer diese lockern will, kann das anschliessend tun.
Die
Detailhändler werden aber wohl kaum von sich aus auf das Sammeln von
Nutzerdaten verzichten.
Nein,
das Datensammeln ist eine Goldgrube. Darauf verzichtet niemand
freiwillig. Das Problem liegt aber nicht nur bei den Detailhändlern.
Der Datenschutzstandard in der Schweiz, so wie er sich jetzt
präsentiert, lässt viele Verwendungsmöglichkeiten offen. In dieser
Hinsicht ist uns die EU deutlich voraus.
Der
Datenschutz wird in der Schweiz nicht hoch genug gewichtet?
Nein,
und ich bin auch nicht so optimistisch, dass sich das bald ändert.
Bis das neue Datenschutzgesetz durch das Parlament ist, dauert es
mindestens noch drei Jahre, und bis dahin wird es Widerstand geben.
Mit
der geplanten Revision soll das Datenschutzgesetz verschärft werden.
Ja,
Ende November kommt das überarbeitete Datenschutzgesetz
voraussichtlich in die Vernehmlassung. Davon versprechen wir uns
einiges. Insbesondere, weil die Schweiz dabei die
Datenschutzrichtlinien der Europäischen Union und die Konvention des
Europarats berücksichtigen muss. Gerade im Online-Handel, wo extrem
viel grenzüberschreitend abgewickelt wird, ist eine Anpassung an
europäische Richtlinien ein Muss. Dennoch: Vorreiter in Sachen Datenschutz wird die Schweiz wohl nicht mehr.
Wann
hat die von Ihnen behauptete Individualisierung der Preise in der Schweiz begonnen?
Es
ist ein relativ junges Phänomen, rund zehn Jahre alt. Startpunkt in
der Schweiz war die Einführung der Kundenkarten. Diese markierte
einen Wendepunkt in der Preispolitik der Detailhändler. Plötzlich
waren sie in der Lage, sukzessive Daten anzulegen, Daten anzureichern
und diese schliesslich gewinnbringend zu verarbeiten.
Dieses Phänomen wird aber nicht beim Detailhandel Halt machen.
Das
ist richtig. Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, zeichnen sich
beunruhigende Tendenzen ab. Denken Sie etwa an Versicherungspolicen.
Es gibt Bestrebungen, diese mittels Tausender Nutzerdaten zu
individualisieren. Dann wird es sehr schwierig für die einzelnen
Personen, da wir alle manipuliert werden bezüglich Produkteauswahl und
Preisgestaltung.
Coop
brach im Sommer ein Experiment mit unterschiedlich hohen Rabatten
nach harscher Kritik ab. Wie werden die Migros-Kunden reagieren?
Die
Kunden werden das nicht goutieren, was auch richtig ist. Die
Kundschaft wird auf andere, verlässliche Kanäle ausweichen –
sofern andere Kanäle noch zur Verfügung stehen.
Das war vor gut 10 Jahren