In der Schweiz wird niemand ausgeschlossen. Theoretisch. Mit dem Gleichstellungsgesetz hat sich das Land verpflichtet, allen Menschen den Zugang zum öffentlichen Leben zu gewährleisten.
Bei dieser Zugänglichkeit oder Barrierefreiheit denken aber viele Menschen nur an Rampen für Rollstühle. Oder an Blindenleitsysteme an Bahnhöfen. Doch durch die fehlende digitale Barrierefreiheit werden in der Praxis Hunderttausende ausgeschlossen, wie der Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) am Dienstag an einer Medienkonferenz bekannt gab.
Menschen mit Seheinschränkungen haben Schwierigkeiten, ein Ticket am Billettautomat zu lösen, einen Lift oder eine Kaffeemaschine mit Touchscreen zu bedienen und eine Speisekarte mit QR-Code zu scannen. Aus diesem Grund hat der SBV eine Sensibilisierungsoffensive gestartet.
An der Medienkonferenz erklärt Studer, der selbst seheingeschränkt ist, dass die meisten digitalen Angebote nicht barrierefrei auf den Markt kommen. Beispiele dafür gibt es viele, auch auf Behörden-Seite. So lassen sich Websites nicht bedienen, die von der Vorlesefunktion nicht erfasst wurden. Oder: «Die Städte bieten eine e-ID an, aber die dazu notwendige App ist nicht für Seheingeschränkte bedienbar», sagt Studer.
Die Folge davon: «Sehr gut ausgebildete Menschen, die eine Einschränkung haben, kommen oft wegen digitalen Barrieren nicht weiter in ihrem Berufsleben.» Dabei ist der SBV-Präsident überzeugt: «Die Wirtschaft muss erkennen, dass Menschen mit einer Seheinschränkung auch ein Markt sind.»
Gleichzeitig müsse die öffentliche Hand mehr in die Gleichstellung investieren, wie etwa in Sprachbefehl-Funktionen bei SBB-Billettautomaten. Oder E-Voting statt der bisherigen Stimmzettel, die Betroffene ohne Hilfe nicht ausfüllen können.
Konkret fordert der Verbandspräsident: «Die Parlamentswahlen 2023 müssen die letzten Wahlen sein, die nicht barrierefrei sind.» Für dieses Anliegen waren an der Medienkonferenz mehrere Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus dem National- und Ständerat.
Die Aargauer SP-Nationalrätin und Ständeratskandidatin Gabriela Suter wies darauf hin, dass Vielfalt eine Stärke sei, deren Potential man nützen müsse. Es gebe viele Beispiele, wie man auch im Parlament der Gleichberechtigung Rechnung tragen könne. «Parlamentsdebatten werden durch einen Livestream übertragen. Aber wenn man hörbeeinträchtigt ist, hat man nichts davon, weil die Debatten nicht untertitelt sind», sagt Suter. Es sei ihr ein Anliegen, sämtliche Barrieren im digitalen Raum abzuschaffen.
Das sieht auch Gerhard Andrey so. Der Freiburger Grüne-Nationalrat erzählt, welche Hoffnungen er früher für die digitale Barrierefreiheit gehabt hat. «Vor 20 Jahren durfte ich eine der ersten barrierefreien Webseiten des Bundes mitgestalten. Das zu schaffen, war keine Hexerei», sagt Andrey. Er habe gedacht, die Barrierefreiheit werde schnell zum Industriestandard. «Aber ich wurde enttäuscht, während der letzten Jahre musste man oft auch die Behörden an ihre eigenen Pflichten erinnern.»
Anpassungen im Nachhinein zu machen, komme oft teurer als im Vorfeld auf Barrierefreiheit zu achten, sagt die Solothurner SP-Nationalrätin Franziska Roth. Es sei wichtig, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren. Denn in der Schweiz solle niemand ausgeschlossen werden.
Das ist noch etwas Luft nach oben was XD/UX anbelangt…