15.30 Uhr im Bauch des Letzigrunds in Zürich. Konzentriert studiert Beni Winiger seinen prall gefüllten Notizblock, sichtet die letzten Ergebnisse in der Super League, wälzt Statistiken. Danach bespricht Winiger mit seinem Kollegen Marco Löffel die Aufstellungen und die taktische Ausrichtung der Grasshoppers und des FC Sion, die an diesem verregneten und tristen Sonntag aufeinandertreffen. «Balotelli spielt nicht nur, er ist auch gleich Captain», sagt Winiger mit Verzücken. Der Italiener verspricht Spektakel.
Löffel arbeitet als Sportredaktor beim Schweizer Fernsehen, Winiger bei der Zürcher Kantonalbank in Hombrechtikon als Kundenberater. Am Wochenende aber tauscht Winiger den Anzug gegen Jeans, Hoodie und Dächlikappe und taucht in eine andere Welt ein.
Seit drei Jahren kommentiert der 46-Jährige an fast jedem Wochenende für das Radio Blind Power Fussballspiele. Zwar kann Winiger nicht genau beziffern, wie viel Zeit er inklusive Vorbereitung aufwendet, aber es ist auch klar: Es ist weitaus mehr als die drei Stunden am Spieltag.
Für seine Einsätze erhält Winiger eine bescheidene Entschädigung und Spesen werden pauschal abgegolten, des Geldes wegen macht er das aber nicht. Er sagt: «Es gibt mir ein unglaublich gutes Gefühl, Blinden und sehbehinderten Menschen Zugang zum Schweizer Fussball zu verschaffen.»
Dass die Zahl der Zuhörenden bei Blind Power nur selten dreistellig ist und er für ein kleines Publikum kommentiert, stört Winiger nicht. Er bereitet sich mit gleicher Akribie vor und beschreibt das Geschehen mit nicht weniger Herzblut, als wenn die ganze Schweiz zuhören würde. Er sagt:
Auf Radio Blind Power aufmerksam geworden ist Winiger per Zufall über Facebook. «Ich fand das Projekt gut und wichtig, deshalb habe ich mich mit dem Verein in Verbindung gesetzt und gefragt, in welcher Form ich mithelfen kann», sagt Winiger. Nach einem halbtägigen Grundkurs gab er im Frühling 2020 – zu Beginn der Coronapandemie – sein Debüt am Mikrofon. Seither ist er ein unverzichtbarer Wert und steht an fast jedem Spieltag im Einsatz, bei GC vs. Sion kommentierte er bereits sein 113. Spiel.
Entsprechend routiniert ist Winiger, der sagt, als junger Erwachsener habe ihm der Mut gefehlt, den Job bei der Bank aufzugeben, um sich den Traum vom Leben als Sportreporter zu erfüllen. 20 Minuten vor Anpfiff beziehen er und Marco Löffel ihre Positionen auf der Haupttribüne im Letzigrund.
Jeder Handgriff sitzt. Installation des Audio-Equipments für den Stream, ein iPad, um das TV-Livebild zu empfangen und strittige Szenen noch einmal anschauen zu können, Kopfhörer auf, Soundcheck, dann: Anpfiff.
Wie unterscheidet sich das Kommentieren für Sehbehinderte von der Arbeit von Radioreportern, die für regionale Sender arbeiten, schliesslich beschreiben auch die für ein Publikum, das nur hört und kein Bild hat?
Beni Winiger sagt: «Unser Anspruch ist es, jede Bewegung quasi in Echtzeit weiterzugeben, jede Aktion zu beschreiben, jeden einzelnen Ballkontakt. Wer spielt den Ball wie zu wem? Auf welcher Seite befinden wir uns? Wer macht was?»
Kurz: Winiger kommentiert nicht, er beschreibt das Spiel. Im Fachjargon heisst das Audiodeskription.
Eine anspruchsvolle Aufgabe, vor allem dann, wenn Winiger Spiele alleine abdeckt, wie das von Zeit zu Zeit vorkommt, weil dem Verein Freiwillige fehlen. Hat Winiger wie an diesem Nachmittag mit Marco Löffel einen Co-Kommentator, legt er Wert darauf, dass es kein wildes Durcheinander gibt, in dem man sich gegenseitig ins Wort fällt. Deshalb arbeiten die beiden in 5-Minuten-Intervallen. Und zünden dabei ein sprachliches Feuerwerk.
Wer am Radio zuhört, dem fehlt der unverkennbare Duft, der während Fussballspielen in der Luft liegt, dieses Mischmasch aus Bratwurst, Bier und manchmal auch Rauch, wenn Fans Pyros abbrennen.
Doch Winiger und Löffel gelingt es, das Spiel so wortgewandt, flüssig, so präzis und detailgetreu zu beschreiben, dass daraus Bilder entstehen, die sich wie ein Film vor dem inneren Auge abspielen. Und das alles mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und Synchronizität zum Geschehen.
Wie Meritan Shabani den Ball neben das Tor schlenzt. Wie der GC-Spieler nach einem Foul im Mittelkreis Rot sieht. Wie Itaitinga nach einem Zweikampf auf den Rücken knallt. Und wie Mario Balotelli - natürlich er - die Weichen für den 3:1-Sieg Sions stellt.
Spektakel auf dem Spielfeld. Und Spektakel an den Mikrofonen, wo Winiger und Löffel den Schweizer Fussball mit Leidenschaft zu den blinden und sehbehinderten Menschen im Land bringen.
Winiger hat selbst 25 Jahre in unteren Ligen für Stäfa gespielt - mit viel Leidenschaft, aber ohne grosses Talent, wie er sagt. Sein Herz verschenkt hat er aber nicht etwa an den FCZ oder GC, sondern an Neuchâtel Xamax, das in den 1980er-Jahren unter dem späteren Nationaltrainer Gilbert Gress seine Blütezeit erlebte und zwei Mal Schweizer Meister wurde.
Weil Xamax seit 2020 nicht mehr in der Super League spielt, gerät Winiger derzeit auch nicht in die Bredouille, wenn er Spiele seines Lieblingsvereins kommentieren müsste. Denn auf eine Sache legt der Banker besonderen Wert: «Wir sind neutral und kein Fanradio. Mein Anspruch ist es, kritisch zu beschreiben, was nicht heisst, dass wir keine Emotionen reinbringen.»
Winiger sucht das Rampenlicht nicht. Dass er von seinem Engagement erzählt, hat einen anderen Grund: Der Verein Blind Power finanziert sich vor allem über Spenden – und dafür muss er immer wieder auf seine Angebote und Projekte aufmerksam machen.
Für den Radiobetrieb braucht es dazu Equipment, vor allem aber: Techniker, fleissige Helfer in der Administration und Reporter, die sich mit Herzblut und Leidenschaft einsetzen. So wie Beni Winiger – der Banker für blinde Fussballfans. (aargauerzeitung.ch)