Jose O., ein 47 Jahre alter Kolumbianer, lebte in Basel in bescheidenen Verhältnissen. Er wohnte in einem heruntergekommenen Wohnblock hinter dem Messeturm. An den Briefkästen und bei den Klingeln hat es keine gravierten Namensschilder. Die Einträge der Vormieter werden einfach mit Klebestreifen überdeckt.
Die Haupttüre steht offen. Vielleicht hat jemand den Keil darunter geschoben, um den muffigen Geruch aus dem Gang zu vertreiben. Im Innenhof liegen Pizzaschachteln herum.
Sein Lebensstil war Teil seiner Tarnung: Jose O. ist mutmasslich einer der einflussreichsten Drogenbosse, den Ermittler in der Schweiz je aufgespürt haben. Gemäss der Basler Staatsanwaltschaft war Jose O. daran, ein eigenes Drogenkartell namens Medusa aufzubauen.
Er sei im Kokainhandel weltweit tätig gewesen und habe persönliche Kontakte zu kolumbianischen Kartellen auf höchster Führungsebene gepflegt. So soll er etwa mit einem angeblichen Verbindungsmann zum Chef des Clan del Golfo gechattet haben, dem mächtigsten Verbrechersyndikats Kolumbiens.
Jose O. habe beim Einkauf des Kokains in Lateinamerika mitgeredet, über Einkaufspreise verhandelt und die globale Auslieferung mitorganisiert: auf der Strasse, auf dem Wasser und in der Luft. Einige internationale Kokaintransporte habe er zudem gleich selber durchgeführt. Dafür betrieb er zwei Früchtehandelsfirmen. Das Kokain soll er etwa in Ananas versteckt haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Am Montag wird der Fall vor dem Basler Strafgericht verhandelt. Die Staatsanwaltschaft bringt in der Anklageschrift selber ihr Erstaunen zum Ausdruck, dass sie einen mutmasslichen Schwerverbrecher dieses Kalibers vor Gericht bringt. Normalerweise erwischt sie nur die Dealer auf der Strasse und manchmal deren Hintermänner. Der grosse Rest der Organisation dahinter bleibt aber meist im Verborgenen.
Die Ermittler haben den Fahndungserfolg einer internationalen Polizeiaktion zu verdanken. Vor zwei Jahren haben Strafverfolgungsbehörden von Belgien, Frankreich und den Niederlanden das Chatsystem Sky ECC gehackt. Das ist ein Dienst, der wie Whatsapp funktioniert und von den USA und Kanada aus mit Servern in Europa betrieben wurde.
Die Firma warb damit, dass ihr Dienst wegen einer besonderen Verschlüsselungstechnologie als unhackbar gilt. Das hatte seinen Preis. Ein Halbjahresabo kostete je nach Umfang 900 bis 2400 Franken. Das lohnt sich nur zu geschäftlichen Zwecken. Und es gibt nur ein Business, in dem eine Nachfrage auf diesem Preisniveau besteht: die organisierte Kriminalität.
Mit der Entschlüsselung des vermeintlich unhackbaren Chatsystems erhielten die Behörden Einblick in die Aktivitäten von 170'000 Nutzern. Der Datenberg ist enorm: Gemäss der europäischen Polizeibehörde Europol hat sie eine Milliarde Nachrichten abgefangen.
Die Schweizer Bundespolizei Fedpol hat Zugang zu den Daten erhalten und analysiert diese gemeinsam mit den Kantonspolizeien. Auf Anfrage nennt Fedpol erstmals eine Zahl: Gemäss aktuellem Kenntnisstand seien rund 3000 Sky-ECC-Nutzerprofile in der Schweiz aktiv gewesen. Ein Fedpol-Sprecher sagt:
Was das bedeutet, veranschaulicht die Anklageschrift im Basler Fall. Sie fasst die Chatprotokolle zusammen. Nachfolgend drei Beispiele.
Aufgrund solcher Chatnachrichten kommt die Basler Staatsanwaltschaft zum Schluss, dass Jose O. in sieben Jahren 115 Kilogramm Kokain für mehr als 8 Millionen Franken verkauft habe und allein im Jahr vor der Verhaftung an internationalen Transporten von 9 Tonnen Kokain mit einem Strassenverkaufswert von 600 Millionen Franken mitgewirkt habe.
Dabei habe Jose O. für sich und seine Familie in Spanien und Kolumbien grössere Beträge zur Seite legen und sich eine Villa auf Mallorca kaufen können. Doch wie im Chat erwähnt hat es Jose O. auch mit seiner steilen kriminellen Karriere nicht geschafft, ein luxuriöses Leben zu führen, sondern befand sich teilweise in finanziell prekärer Lage. Ein Grund dafür sind die Schwankungen seines Geschäfts.
An guten Tagen soll er 10'000 bis 50'000 Franken eingenommen haben. Trotzdem kam es offenbar immer wieder vor, dass die Ausgaben grösser waren als die Einnahmen, etwa wenn ein Transport scheiterte. Dann war Jose O. ausser sich und schrieb im Chat, man solle den Verantwortlichen zum Coiffeur schicken. In Kolumbien bedeutet das, jemand solle umgebracht werden.
Um die Einnahmen aufbessern zu können, bunkerte Jose O. gemäss Anklage in seiner Wohnung grössere Mengen Kokain, die er verarbeitete, abpackte und an Zwischenhändler weiterverkaufte. Mit dieser Tätigkeit soll er vor neun Jahren ins Geschäft eingestiegen sein. Dass er diese für seine Verhältnisse niedere Arbeit nicht aufgab, als er die Karriereleiter emporstieg, ist ungewöhnlich. Normalerweise ist der Kokainhandel arbeitsteilig organisiert. Der Fall zeigt, dass selbst ein mutmasslicher Drogenboss, der Umsätze in Millionenhöhe macht, nicht unbedingt ein angenehmes Leben führen kann.
Nur etwas tat Jose O. nie: Kokain auf der Strasse verkaufen. Die Frontarbeit soll er seinen Bandenmitgliedern überlassen haben, aber dabei die Preise diktiert haben: mindestens 70 Franken pro Gramm. Das ist relativ günstig und zeigt, dass die Konkurrenz unter den Händlern gross ist.
Untersuchungen der rechtsmedizinischen Labore der Schweiz zeigen, dass der Reinheitsgrad des beschlagnahmten Kokains in den vergangenen Jahren tendenziell gestiegen ist - bei gleichbleibenden Preisen. Eine Linie Kokain kostet auf dem Schwarzmarkt nur 10 bis 15 Franken, kann also günstiger sein als ein Cocktail in einer angesagten Bar.
Die tiefen Preise trotz steigender Qualität zeigen: Die Händler können es sich weniger leisten, den Stoff zu strecken, weil der Schweizer Markt mit Kokainlieferungen überschwemmt wird.
Für die Gesundheit der Konsumenten kann das einerseits Vorteile haben, da das Risiko durch gesundheitsgefährdende Streckmittel sinkt. Andererseits nehmen mit der höheren Dosierung die Gesundheitsrisiken des Kokains wie Herzschäden zu.
Die Aktionen der Kantonspolizeien wirken dabei nur wie Tropfen auf einen heissen Stein. Pro Jahr beschlagnahmen sie wenige hundert Kilogramm Kokain, während Männer wie Jose O. mutmassliche Transporte von mehreren Tonnen organisierten.
Von den Schweizer Sky-ECC-Daten haben die Schweizer Behörden erst einen Teil ausgewertet, obwohl sie schon lange Zugriff darauf haben. Denn selbst, wenn die Ermittler die Informationen von Europol auf dem Silbertablett serviert erhalten, ist die Auswertung aufwendig. Jedes Chatprotokoll ist in einer Exceldatei gespeichert, kommt also immer noch kryptisch daher.
Die Zürcher Forensikfirma Forentec hat deshalb in Zusammenarbeit mit Fedpol und der Thurgauer Staatsanwaltschaft eine Software entwickelt, welche die Daten übersichtlich darstellt. Ermittlerinnen und Übersetzer können parallel damit arbeiten und die Daten durchsuchen, analysieren und kommentieren.
Erst wenige Behörden haben allerdings Lizenzen dafür gekauft. Colin Jörg, Chefinformatiker von Forentec, sagt auf Anfrage: «Bis jetzt ist es für uns ein Verlustgeschäft. Wir haben uns mehr erhofft. Wir glauben aber weiterhin an unser Produkt und werden es für andere Chatsysteme weiterentwickeln.»
Unklar ist zudem, inwieweit die Daten überhaupt als Beweise vor Gericht verwendet werden können. Denn sie stammen aus einem behördlichen Hack, der so in der Schweiz kaum erlaubt wäre. Trotzdem können sie vor Gericht zugelassen werden, wenn damit schwere Straftaten aufgeklärt werden können.
Martin Steiger, Experte für Recht im digitalen Raum, kritisiert generell: «Je weniger Rechtsstaatlichkeit besteht, desto schwerwiegender müssen die Tatvorwürfe und damit die möglichen Straffolgen sein. Rechtsstaatlich gesehen müsste es für Beschuldigte genau umgekehrt sein.»
Eine weitere Schwierigkeit für die Strafverfolgungsbehörden ist, dass die Teilnehmer der Sky-ECC-Chats viele Codewörter verwendeten. Sie fühlten sich auf der Plattform zwar sicher und teilten auch Fotos von Waffen sowie Kokainplatten, Listen von Schiffsrouten mit markierten Häfen und GPS-Daten, die nun zu Beweismitteln werden können. Ihre Geheimsprache haben sie aber offenbar so verinnerlicht, dass sie diese auch in diesem vermeintlich sicheren Rahmen nicht aufgaben.
So sprachen Jose O. und seine Komplizen immer wieder von einer «Ranch». Die fallführende Staatsanwältin vermutet, dass es sich dabei um die Wohnung beim Messeturm handelt. Sicher ist sie aber nicht.
Die aktuelle «Ranch» von Jose O. ist das Gefängnis Bostadel im Kanton Zug, wo er im vorzeitigen Strafvollzug sitzt. Über seinen Verteidiger Moritz Gall lässt er ausrichten, er gestehe einen Teil der Anklage ein: Ja, er habe Kokain konsumiert. Aber nein, er habe nie damit gehandelt.
Zum Kryptohandy mit den Sky-ECC-Chats, das die Ermittler bei ihm fanden, sagt der Beschuldigte: «Damit habe ich nichts zu tun. Jemand hat dieses iPhone in meiner Wohnung liegen lassen, weil es kaputt war. Ich habe es aber nie benutzt.»