Es muss ein besonderer Tag gewesen sein. Der Montag, 10. April 2017, war der Tag, an dem A.* seine Arbeit als Kellner in einem Pub in Lugano aufnahm. Er war mit einer Arbeitsbewilligung ausgerüstet und gab gegenüber den Schweizer Behörden an, er wohne einige Häuser weiter in Lugano. Tatsächlich hatte er dort eine Wohnung gemietet.
Der Italiener A. (42) war kein gewöhnlicher Kellner, sondern ein hochrangiger Mafioso. Er gehört zu den 104 mutmasslichen Mafiosi, die im letzten November im Zug der Operation «Nuova Narcos Europea» in Italien und der Schweiz verhaftet wurden. Die Operation richtete sich in verschiedenen Strängen gegen die Clans der Pesce / Bellocco / Molè aus Gioia Tauro und Guardavalle sowie der Larosa auf Giffone.
Laut den Ermittlern hatte A. ab Sommer 2019 die Funktionen von Francesco Riitano (41) übernommen, nachdem dieser verhaftet worden war. Riitano gilt als einer der wichtigsten Kokain-Broker der 'Ndrangheta, er arbeitete mit seiner Truppe und unter falschen Identitäten eng mit derjenigen des bis heute flüchtigen Mario Palamara zusammen. Die Broker, eine Art Generalunternehmer der Drogen-Mafia, organisierten im Auftrag diverser Clans Kauf und Vertrieb von tonnenweise Kokain aus Südamerika.
Als die italienischen Anti-Mafia-Behörden den angeblichen Kellner A. observierten, stiessen sie auf B.* (59). Der Italiener aus Mailand mit B-Bewilligung war, zumindest auf dem Papier, einer von drei italienischen Mitbesitzern des Pubs, der den mutmasslichen Kokainbaron anstellte und ihm den Aufenthalt in der Schweiz ermöglichte. Der Pub wurde vor rund zehn Jahren angeblich stilgerecht, jedenfalls für sehr viel Geld eingerichtet.
B. war in Lugano bestens vernetzt. Mitte 2014 konnte er etwa bei der Einweihung eines Pub-Schiffs auf den damaligen Stadtpräsidenten Marco Borradori (Lega, letztes Jahr verstorben) zählen, mit dem er beim Eröffnungsakt ein rotes Band zerschnitt. Freundschaftlich verbunden war er, wie Facebook-Einträge andeuten, mit einem Ex-Chef der kantonalen SVP.
Auf Facebook zeigt B., wie dies auch viele Mitglieder der 'Ndrangheta tun, besondere Sympathien für rechte bis rechtsextreme Politik, für Salvini, Berlusconi und Trump, gegen Bootsflüchtlinge aus Afrika. Andererseits inszenierte er sich besonders gerne als guten, feinfühligen Menschen. Noch Monate vor seiner Verhaftung teilte er den Spruch: «Gut zu sein ist kein anderes Wort für Idiot. Gut zu sein ist eine Tugend, die einige Idioten nicht verstehen.»
B. ist laut den Ermittlern «ein enger und vertrauter Mitarbeiter von A.», der ab August 2019 grosse Mengen von Kokain von Südamerika nach Italien importiert habe, anhand «von eigenen Kontakten mit den südamerikanischen Kartellen». Ihn und andere Mitglieder der Mafia soll B. von Lugano in verschiedenster Hinsicht logistisch unterstützt haben. So fuhr er mit einem Mini Cooper oder einem BMW regelmässig Strecken von mehreren hundert Kilometern, um grosse Summen in bar einzusammeln. Diese Kassierfahrten führten ihn regelmässig auch nach Bern. Das einkassierte Geld brachte er umgehend zum Boss nach Lugano.
Im Sommer 2020 fuhr er seinen Auftraggeber mit dem BMW X1 nach Guardavalle in Kalabrien, wo dieser seine Ferien verbrachte. B. kümmerte sich auch darum, für den Boss eine Schweizer Prepaid-Kreditkarte aufzuladen, die dieser unter falschem Namen besass. Er soll auch dabei geholfen haben, ihm für 6000 Euro eine «saubere» Glock-Pistole zu beschaffen. Im Sommer 2019, als Broker Riitano verhaftet wurde und unter den Gangstern das Zittern ausbrach, versteckte er zwei wichtige Gang-Mitglieder bei sich zu Hause im Tessin.
Die Mafiosi um A. verfügten zweifellos über beträchtliche Investitionen im Tessin. Was B. betrifft, lässt sich seine Aktivität im Tessin seit mindestens 2012 nachweisen. Er trat als Mitgründer von Firmen im Bereich Gastro, Lebensmittel und Bau auf und betrieb einen Chauffeur-Service mit Mietwagen. Ein Taxidienst, der als Tarnung diente.
Im Zug der Operation «Nuova Narcos Europea» wurden in der Schweiz sechs Leute verhaftet, unter ihnen B. Wie das Bundesamt für Justiz (BJ) auf Anfrage festhält, haben drei der Verhafteten der vereinfachten Auslieferung zugestimmt. Sie, offenbar auch B., seien bereits an Italien übergeben worden. Die Auslieferung der anderen habe das BJ bewilligt. Es sind allerdings noch Rekurse beim Bundesstrafgericht hängig. Es gilt die Unschuldsvermutung.