Langnaus Trainer Heinz Ehlers ist nach dieser bittereren Niederlage nicht grantig. Obwohl er dazu wahrlich allen Grund hätte. Er hadert nicht einmal mit den Hockey-Göttern. Das ist eines seiner Erfolgsgeheimnisse: Er tritt stets anders auf, als es die Chronisten (und die Spieler) erwarten.
Heinz Ehlers sagt also, dass man gegen eine so talentierte Mannschaft wie die ZSC Lions eben vier Treffer kassieren könne. Dass er im Hinblick auf die zweite Partie (heute Abend in Biel) nichts ändern werde.
Dabei hätte er allen Grund gehabt, grantig zu sein. Die Langnauer haben eine Partie verloren, die sie niemals hätten verlieren dürfen. Sie führten bis in die zweitletzte Minute des zweiten Drittels 3:0 und verloren in der Verlängerung 3:4. Zum ersten Mal hat Langnau unter Heinz Ehlers einen Dreitore-Vorsprung aus der Hand gegeben. Unter Heinz Ehlers, diesem Hexenmeister des Defensivspiels, einen Dreitore-Vorsprung herzugeben, ist, wie beim Schieber mit neun Trümpfen den Match zu vergeigen – also eigentlich unmöglich.
Wenn wir eine Erklärung für dieses Drama suchen, dann müssen wir die Lösung im hohen Norden suchen. In Langnau zieht eine finnische Depression auf.
Vor diesem ersten Saisonspiel hat es viel Kritik für die «finnische Mafia» gegeben. Für die drei finnischen Titanen Ville Koistinen, Eero Elo und Antti Erkinjuntti. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte legen die Langnauer ihr Schicksal in die Hände von drei Finnen. Sieben von acht Vorbereitungsspielen hatten sie verloren, viermal sogar «zu null». Die drei Finnen waren offensive Nullnummern.
Diese Kritik löste sich im ersten Ernstkampf in Jubelgesängen auf wie Bodennebel in der aufgehenden Herbstsonne. «Eero Elo, Eero Elo, Eero Elo», echote es bald einmal tausendfach von den Rängen. 3:0 führen die Langnauer, alle drei Treffer hatten die drei Finnen herausgespielt und erzielt, zweimal traf Eero Elo. Nicht ein einziger Skorerpunkt fiel als «Brösmeli» des Ruhmes für die Schweizer und die kanadische Nullnummer Aaron Gagnon vom Tisch der Offensive.
Hatte da irgendjemand gesagt, mit Finnen könne man nicht gewinnen? Schämen sollte sich der Chronist, der diesen dummen Spruch gemacht hat.
Aber am Ende ist es, wie es ist: mit Finnen kann auch Langnau nicht gewinnen. Oder etwas diplomatischer: Trotz Finnen konnte Langnau nicht gewinnen.
Eero Elo, der Held der ersten Spielhälfte, der umjubelte Vollstrecker zum 1:0 und zum 2:0, wird zum tragischen Helden der zweiten 30 Minuten. Erst scheitert er beim Stande von 3:2 mit einem Penalty an Niklas Schlegel (54. Minute). Es wäre der Sieg gewesen. Dann bringt er in der Verlängerung den Puck nicht am flinken, starken ZSC-Goalie vorbei und im Gegenzug fällt das 3:4.
Ich nehme in Kauf, mit meiner Analyse über die finnische Depression bereits nach dem ersten von 50 Qualifikationsspielen vorschnell die Sünde des «Hockey-Rassismus» zu begehen.
Die Langnauer haben ja auch vor einem Jahr im ersten Saisonheimspiel gegen die ZSC Lions in den Schlussminuten ein 1:0 aus der Hand gegeben und 1:2 verloren. Sechs Tage später gingen sie gegen Zug im Schlussdrittel sogar nach einer 3:0-Führung noch 3:4 unter. Aber das war in einem anderen Zeitalter, in einer anderen Hockey-Welt. Das war, bevor Heinz Ehlers kam und für Ordnung, System, Disziplin, Schema, Stabilität, Zuordnung, Resistenz, Widerstandfähigkeit und Verlässlichkeit in der Defensive sorgte.
Es gibt sie, die finnische Depression oder Melancholie. Sie ist wissenschaftlich bewiesen. Ein Doktor der Musikwissenschaften hat einmal in Finnland 224 einheimische Hits aus den Jahren 1929 bis 1996 untersucht. Der Aspekt, unter dem er die Songs betrachtete, war: Welche musikalischen Züge haben sie gemeinsam? Gibt es melodische oder strukturelle Gemeinsamkeiten? Welche musikalischen Elemente machen einen finnischen Hit aus?
Es gibt eine Gemeinsamkeit: Achtzig Prozent der finnischen Erfolgssongs sind in Moll geschrieben. Lieder oder Musikstücke in Moll sind traurig oder mindestens melancholisch. Und haben die Filme von Aki Kaurismäki, dem berühmtesten finnischen Regisseur aller Zeiten, nicht fast alle ein Drehbuch wie dieses 3:4 n.V. des tapferen, mutigen Aussenseiters Langnau gegen den Titanen aus der grossen Stadt?
Tragische Niederlagen gehören zur finnischen Hockeykultur wie im Emmental die Löcher in den Käse. Unvergesslich bleibt beispielsweise der 7. Mai 2003. Finnland führte in Helsinki im WM-Viertelfinale gegen den Erzrivalen Schweden 5:1. Und verlor 5:6. Die Kunst, mit stoischer Würde am Eishockey zu leiden, wird im finnischen Eishockey kultiviert. Dazu passt durchaus, dass die Finnen ihre ganz eigene, melancholische Art des Tangos entwickelt haben.
Für die ZSC Lions wird dieses erste Spiel der Saison im Rückblick bloss eine Fussnote sein. Was wirklich zählt, sind die Playoffs im Frühjahr. Aber für die Aussenseiter ist schon im September und Oktober Playoffzeit. Sie haben nur eine Chance auf eine gefreute Saison und auf die Playoffs, wenn sie sofort Punkten. Dazu gehört die Fähigkeit, im Herbst nachlässige Favoriten zu besiegen.
Der verlorene Punkt in Langnau ist für die Zürcher praktisch bedeutungslos. Für die Langnauer hingegen können die zwei verschenkten Punkte am Ende die Playoffs oder den vorzeitigen Ligaerhalt kosten. Immer wieder wird vergessen, dass im September verschenkte Punkte genau gleich viel Zählen wie jene, die in einer dramatischen Schlussphase verloren gehen.
Die SCL Tigers haben nur eine Chance auf die Playoffs, wenn sie die finnische Depression überwinden. Wenn die drei Finnen nicht mehr melancholisches Moll-Hockey spielen. Wenn sie, entgegen ihrem Naturell, Ländler-Hockey zelebrieren lernen. Sonst wird die finnische Melancholie der Rost im defensiven Stahlgerüst von Trainer Heinz Ehlers. Der Ländler ist gut strukturierte, geschwinde Musik in gleichmässig hohem Rhythmus mit heiterem, fröhlichem Charakter.
P.S. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Aaron Gagnon so schnell wie möglich ersetzt werden sollte.