Die Schweiz hätte ohne Dublin-Abkommen über 15'000 Flüchtlinge mehr
Vor zwei Woche entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Schweiz eine afghanische Flüchtlingsfamilie nicht nach Italien zurückschaffen darf. Die Richter in Strassburg stellten in ihrem Urteil fest, dass Italien – überspitzt gesagt – mit den vielen Flüchtlingen überfordert sei.
So seien letztes Jahr in Italien über 14'000 Asylanträge gestellt worden, obwohl nur rund 9600 Plätze frei waren. Eine grosse Anzahl von Flüchtlingen sei zudem «unter gesundheitsschädlichen und gefährlichen Bedingungen in überfüllten Einrichtungen» untergebracht. Unter diesen Voraussetzungen müsse die Schweiz eine Garantie bei Italien einholen, dass die Kinder geschützt und nicht von den Eltern getrennt würden.
Das Urteil übt scharfe Kritik am italienischen Asylwesen. Und es stellt das Dublin-Abkommen in Frage. In die Dublin-Kritik stimmten auch die Schweizer Parteien ein: So forderte Alt-Bundesrat Christoph Blocher die Aufkündigung des Abkommens.
Die Frage stellt sich: Was würde passieren, wenn die Schweiz kein Dublin-Abkommen hätte? Oder wenn die EU dereinst ein neues, nach anderen Regeln funktionierendes, Flüchtlings-Abkommen vorschlägt?
1. Die Schweiz profitierte vom Dublin-Abkommen
Seit dem Inkrafttreten des Dublin-Abkommens in der Schweiz wurden gut 114'000 Asylgesuche eingereicht. Rund 50'000 Anträge davon konnte die Schweiz als Dublin-Verfahren behandeln, davon wurden rund 37'000 – also gut 80 Prozent – positiv beantwortet. Bisher konnte die Schweiz 19'200 Flüchtlinge an ein anderes Land zurückweisen.
Im umgekehrten Fall erhielt die Schweiz rund 12'400 Anträge von anderen Dublin-Staaten. Die Schweiz stimmte rund der Hälfte aller Anträge zu. 3200 Asylfälle musste die Schweiz zurücknehmen. Das sind Netto rund 15'900 Flüchtlinge in den letzten fünf Jahren.
2. Jetzt hebelt Italien das Dublin-Abkommen aus
Italien kooperierte überdurchschnittlich gut mit der Schweiz. Jahrelang war die Zustimmungsquote bei Rückführungen nach Italien überdurchschnittlich hoch, was die obige Grafik darstellt. Mit der Zunahmen der Flüchtlingszahlen durch die Krisen in Nordafrika wurde das Asylwesen in Italien zunehmend chaotischer. Das Problem hierbei ist das Verfahren zur Bestimmung der zuständigen Dublinnation.
In der Regel kann ein Flüchtling durch die Registrierung des Fingerabdrucks in der europäischen Flüchtlingsdatenbank einem Dublinstaat eindeutig zugeordnet werden. In den anderen Fällen muss anhand der «Geschichte» des Asylsuchenden herausgefunden werden, ob ein Flüchtling in einem anderen Land als der Schweiz länger anwesend war, um das zuständige Dublinland herauszufinden. Man schaue so zum Beispiel, ob die Reisegeschichte plausibel sei, und der Flüchtling sich in anderen europäischen Ländern gut auskenne, so Martin Reichlin vom Bundesamt für Migration. Liegen genug Indizien für die Zuständigkeit eines anderen Staates vor, dann könne die Schweiz ein Ersuchen auf Übernahme des Verfahrens stellen.
Dieses Gesuch muss von Italien genehmigt werden. Weil Italien aber zunehmend in ein Asylchaos versinkt, zieht es unser Nachbarstaat immer mehr vor, Übernahmegesuche abzulehnen, wenn die Zuständigkeit nicht eindeutig ist.
3. Italien ist mit der grossen Zahl von Flüchtlingen überfordert
Italien ist überfordert. 2013 fehlten tausende Asylplätze. Flüchtlingsorganisationen berichten regelmässig von gesundheitsschädigenden Zuständen in den Asylzentren und von Flüchtlingen ohne Obdach, die in Pärken übernachten. 2014 kamen über 100'000 Flüchtlinge in Italien an.
Die afghanische Familie, die nicht nach Italien zurückgeschafft werden darf, war eine von tausenden Familien, die an der italienischen Mittelmeerküste strandeten. Jede Woche versuchen immer noch hunderte Flüchtlinge über den Seeweg nach Europa zu kommen.
4. Eine mögliche Neuverteilung
Dass ein Abkommen überdacht werden muss, wenn seine wichtigste Forderung nicht mehr konsequent umgesetzt wird, weiss auch Justizministerin Simonetta Sommaruga. «Es würde sich lohnen, das Dublin-System zu überdenken, weiter zu entwickeln, zu stärken», sagte die SP-Bundesrätin gegenüber der NZZ.
Die Bundesrätin schlug unter anderem eine Aufteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Länder vor – etwas, was heute in der europäischen Asylpolitik nicht vorgesehen ist.
Mögliche Neuverteilung der Asylzahlen
Alternative Verteilungen werden aber heute bereits intensiv auf europäischer Ebene diskutiert. So hat das Spiegel-Magazin unter dem Titel «Der Verteilungskampf» vorgerechnet, wie sich die Asylzahlen verändern würden, wenn man die Flüchtlinge in Europa nach Einwohnerzahl und nach dem Bruttoinlandprodukt verteilen würde. Länder wie Schweden könnten ihre Flüchtlingszahlen dritteln – andere Staaten wie Portugal hingegen müssten massiv mehr Flüchtlinge aufnehmen.
