Stellen Sie sich vor, am Sonntag bekommt Bradley Cooper einen Oscar verliehen, und ein Jahr später stellt sich heraus, dass er Aargauer ist. Was hier los wäre! Aber so ähnlich hat es sich beim ersten Schweizer Preisträger in der Kategorie «bester Hauptdarsteller» zugetragen: Als Yul Brynner 1957 für seine Rolle im Film «The King and I» die begehrte Trophäe gewann, hielt ihn die Welt für einen Amerikaner russischer Herkunft. Niemand wusste, dass der charismatische Glatzkopf seit seiner Geburt Schweizer war.
Geboren wurde Yul Brynner – Filmfans vor allem durch den Kultwestern «Die glorreichen Sieben» in Erinnerung – 1920 sehr weit weg von der Schweiz, im russischen Wladiwostok. Sein Grossvater, der Abenteurer Jules Briner, hatte sich in den 1870er Jahren aus der Aargauer Gemeinde Möriken-Wildegg aufgemacht, die Welt zu erobern. Am äussersten Zipfel des Zarenreiches wurde er erfolgreicher Import-Export-Unternehmer und sein Sohn Boris, Yul Brynners Vater, gar Schweizer Konsul.
Doch über seine Wurzeln sprach der Filmstar nur selten, und wenn, dann log er absichtlich. Brynner liebte es, neugierigen Medien immer wieder sensationelle – aber frei erfundene – Details über seine Herkunft aufzutischen. Damit alimentierte er sein enormes Ego und die Aura des geheimnisvollen Exoten, die ihn im Hollywood der 1950er Jahre umgab. Möglicherweise schwindelte er aus Selbstschutz, denn es gab auch schmerzhafte Kindheitserinnerungen: Er war ohne Vater aufgewachsen, Boris Briner hatte die Familie verlassen, als Yul Brynner vier Jahre alt gewesen war.
Wie dem auch sei: Brynner hätte seine Schweizer Herkunft vielleicht mit ins Grab genommen, wäre da nicht seine ältere Schwester Vera gewesen. Im Mai 1958 verriet sie dem US-Magazin «Newsweek», dass der Vater ein Schweizer Geschäftsmann gewesen sei, und entlarvte so die Märchen ihres Bruders. Darüber war dieser so erbost, dass er jahrelang kein Wort mehr mit ihr wechselte.
Die sensationelle Enthüllung erreichte noch im selben Jahr die Schweiz. In einer Besprechung des neuen Films «Die Brüder Karamasow» schrieb etwa die NZZ: «Yul Brynner hingegen (unser Schweizer Landsmann) sieht leicht komisch aus, wenn er als Dimitri dämonisch zu blicken versucht.» Auch in Brynners Heimatgemeinde Möriken-Wildegg nahm man die frohe Kunde zur Kenntnis, aber davon später mehr.
Mit 17 Jahren betrat Yul Brynner erstmals Schweizer Boden. Anfang der 1930er Jahre war er mit seiner Mutter und Schwester wegen der Mandschurei-Krise nach Paris übergesiedelt. Von dort war es nur ein Katzensprung zu seiner Tante in Lausanne. Der Besuch stand unter einem schlechten Stern: Brynner war opiumabhängig und kollabierte kurz nach seiner Ankunft. Er wurde in eine Privatklinik eingeliefert, wo er von seinem Laster kuriert wurde. Für den Rest des Jahres blieb er in Lausanne.
20 Jahre später kehrte Brynner unter völlig anderen Umständen ins Land seiner Vorväter zurück. Inzwischen hatte er in Hollywood Karriere gemacht, doch wegen seines ausschweifenden Lebensstils war er auch chronisch pleite. Mit seiner Gage aus dem Monumentalfilm «Solomon and Sheba» hätte sich der Superstar sanieren können – doch der US-Fiskus war gnadenlos: Auf eine Million Dollar wurden 90 Prozent Einkommenssteuer fällig! Brynner fand ein Schlupfloch: Er verlegte seinen Wohnsitz in die Schweiz.
Mit seiner zweiten Ehefrau, dem chilenischen Model Doris Kleiner, bezog Brynner 1959 ein luxuriöses Anwesen am Nordufer des Genfersees. In der exklusiven Umgebung wandelte sich der Bohème allmählich zum Aristokraten. Der «King», wie er wegen seiner vielen Königsrollen genannt wurde, beschäftigte ein Heer von Bediensteten und verkehrte im internationalen Jetset. Weil er zu Dreharbeiten häufig in die USA reiste, drohte ihm allerdings die Aberkennung seiner Steuererleichterung. 1965 wählte er die Radikallösung und gab die amerikanische Staatsbürgerschaft auf.
Etwa zur gleichen Zeit schickte sich Brynners Heimatdorf Möriken-Wildegg an, ein Ferienhaus im Wallis zu bauen. Der landwirtschaftlich geprägten 700-Seelen-Gemeinde fehlte aber das Geld, also veranstaltete man im Sommer 1967 ein Dorffest und lud auch den berühmten Bürger ein. Brynner kam tatsächlich, mit Frau und Anwalt, «im selbstgesteuerten Chrysler», wie der «Blick» schrieb. Nach einem Bankett im Gemeindesaal lief er beim Umzug mit, besichtigte Häuser seiner Vorfahren und versuchte sich im Kegeln. Parliert wurde übrigens nicht in der Landessprache Französisch, die der Filmstar perfekt beherrschte, sondern auf Englisch.
Noch heute soll es in Möriken-Wildegg Leute geben, die glauben, Yul Brynner habe das Ferienhaus auf der Bettmeralp im Alleingang bezahlt. Wahr ist: Er spendete 5000 Franken, sein Anwalt 1000. Viel Geld für die damalige Zeit, aber es bedurfte noch der Grosszügigkeit vieler anderer, um das Projekt zu finanzieren. 2014 ehrte Möriken-Wildegg seinen berühmten Sohn und weihte den Yul-Brynner-Platz ein. Zur Feier kamen auch sein Sohn Rock sowie Doris Kleiner, die ihn anno 1967 begleitet hatte.
Nicht nur in Möriken-Wildegg, im ganzen Land sind wir stolz auf Yul Brynner. Doch wie viel Schweiz steckte letztlich in ihm?
Genug, dass er seinen Namen bereits 1943 von Bryner in Brynner ändern liess, damit ihn die Amerikaner annähernd korrekt (und nicht «Breiner») aussprachen. Und weil er sich so schön auf «sinner» (Sünder) reimte, wie er gerne anfügte.
Mindestens ebenso sehr, wenn nicht mehr, schätzte er Frankreich: «In Frankreich bin ich bei mir, in Frankreich bin ich glücklich», sagte er einmal in einem Interview. Hier hatte er den Grossteil seiner Jugend verbracht und hier liegt er auch begraben.
Es gab seltene Momente, da kam sogar Yul Brynner, der Russe, zum Vorschein. Am Sterbebett seiner Schwester Vera unterhielten sich die beiden in der Sprache ihrer Kindheit. Eine besondere Verbundenheit empfand er zudem zu den Roma, die ihm in seiner Jugend in Paris wohl ein Stück weit den Vater ersetzten.
Was meinte Yul Brynner selbst zu der Frage? «Vater, glaubst du, du gehörst nach Amerika oder nach Europa?», fragte ihn einmal sein Sohn Rock. Seine Antwort: «Unser Leben wird immer anders sein, Rock. Wir werden nie richtig irgendwo hingehören.»