Was Europa und die Schweiz von den klammen Briten lernen müssen
Es herrscht Ausnahmezustand auf der britischen Insel: Eine Woche, bevor Schatzkanzlerin Rachel Reeves zum Ritual mit dem roten Köfferchen schreitet, um dem Parlament das neue Haushaltsbudget zu präsentieren, liegt eine Steuererhöhung in der Luft.
Anfang November hatte sich die Finanzministerin auf einer überraschend einberufenen Pressekonferenz bereit für «tough choices» gezeigt, für schwere Entscheidungen. Den Britinnen und Briten war sofort klar, dass sie mit Steuererhöhungen rechnen müssen. Sie kennen das Problem des galoppierenden Staatsdefizits und wissen, dass es ausgeglichen werden muss. Die extrem unbeliebte Labour-Regierung versucht alles, den ultimativen Popularitätskiller zu verhindern. Vielleicht hat sie Glück.
Vor dem Wochenende hiess es in den britischen Medien, Reeves wolle doch auf eine allgemeine Steuererhöhung verzichten und bloss die Einkommensschwelle tiefer setzen, an der die Steuerprogression einsetzt. Die britische Wirtschaft wachse schneller als erwartet, was der Regierung etwas Handlungsspielraum gebe.
Unerbittlicher Kapitalmarkt
Doch der Kapitalmarkt reagierte unerbittlich: Die Renditen britischer Schatzanleihen («Gilts») schnellten am Freitag steil nach oben. Denn im strengen Urteil der Gläubiger kann der Staat sein Defizit nur mit Steuererhöhungen in der geforderten Frist abtragen. Das Denken der Investoren ist einfach und erbarmungslos logisch: Steigen die Schulden, steigt das Risiko und dieses muss durch höhere Zinsen abgegolten werden.
Schon im Sommer hatten Rachel Reeves und ihr Chef, Premier Keir Starmer, den Gläubigern mit einem peinlichen Schauspiel einen Schrecken eingejagt. In der wöchentlichen Fragestunde des Parlaments liess Starmer die Frage eines Abgeordneten nach der politischen Zukunft der Schatzkanzlerin auf eigenartige Weise offen, statt ihre Position zu bekräftigen. Die Ministerin brach vor laufenden Kameras in Tränen aus und der Kapitalmarkt verstand sofort: Hier will ein unpopulärer Regierungschef seine sparsame und darum noch unpopulärere Finanzministerin loswerden, um selbst etwas beliebter zu werden. Der Kapitalmarkt reagierte gleich scharf wie am Freitag und verhinderte die Entlassung von Rachel Reeves.
«Grossbritannien kennt halt strikte Fiskalregeln, und der Markt schaut sehr genau hin, ob sie eingehalten werden», erklärt UBS-Ökonom Felix Hüfner. Eine Fiskalregel verlangt, dass die Regierung ein Budgetdefizit binnen fünf Jahren ausgleicht. Zwei Jahre haben Starmer und Reeves nun schon ungenutzt verstreichen lassen. Drei Jahre bleiben noch, um das jährliche Defizit von derzeit rund 5 Prozent wegzubringen. «Ich sehe nicht, wie das ohne Steuererhöhungen möglich ist», sagt Hüfner und gibt damit die Mehrheitsmeinung der Investoren am Kapitalmarkt wieder.
Mit einer Staatsverschuldung von aktuell etwa 95 Prozent der Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres ist Grossbritannien allerdings bei weitem nicht das am höchsten verschuldete Land in Europa. Grossbritannien leidet nicht primär an der Höhe der Verschuldung, sondern vielmehr an der Dynamik der Neuverschuldung. Bei hoch verschuldeten Ländern wie Italien oder Griechenland scheint diese Dynamik derzeit unter Kontrolle zu sein. Dort steigen die Schulden nur noch wegen der hohen Last der Schuldzinsen.
Frankreich ist «too big to fail»
In Frankreich ist das anders. Die zweitgrösste Volkswirtschaft Europas gibt seit Jahrzehnten mehr Geld aus, als der Staat einnimmt. Die ewig verschleppte Rentenreform fordert ihren Tribut. Felix Hüfner spricht von einem «Ausgabenproblem» in Frankreich, das der Staat eigentlich über tiefere Ausgaben lösen müsste. Aber das scheint politisch ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb hoch, dass auch die Französinnen und Franzosen dereinst gezwungen werden, höhere Steuern zu entrichten und den Staatshaushalt zu entlasten. Höhere Steuern statt eines höheren Rentenalters – die französische Politik steht vor Entscheidungen, die nicht weniger schwer sind als jene, welche die britische Regierung gerade treffen muss. Mit einer Staatsverschuldungsquote von um die 115 Prozent bei einem Defizit von geschätzten 5,5 Prozent im laufenden Jahr wäre die Dringlichkeit für Lösungen in Frankreich sogar noch deutlich grösser als auf der Insel.
Doch für Frankreich scheinen die Fiskalregeln nur auf dem Papier zu gelten. Im Inland sind sie dem politischen Gezerre zwischen Links und Rechts ohnehin längst zum Opfer gefallen, und in der EU werden Regeln schlicht nicht durchgesetzt. Dennoch deutet nichts darauf hin, dass der Kapitalmarkt die französische Regierung so eng an die Leine nehmen wird, wie er diese mit den Briten tut.
Frankreich ist eben ein Kernland im Euro-System und deshalb «too big to fail». Das Land und seine Gläubiger wissen, dass man bei der Finanzierung der Schuldenwirtschaft nie auf sich allein gestellt bleiben wird. Vor 13 Jahren hatte die Europäische Zentralbank unter ihrem damaligen Präsidenten Mario Draghi versprochen, alles nötige («whatever it takes») zu tun, um den Fortbestand der Gemeinschaftswährung zu sichern. Dieses Versprechen gilt heute mehr denn je und garantiert eine eigenartige Solidarität unter Europas grössten Schuldenstaaten, die dem kleinen Griechenland damals nicht gewährt worden war.
Eine Verhaltensänderung ist nicht in Sicht, denn mit Haushaltsdisziplin lässt sich politisch keinen Blumentopf gewinnen. Doch der Preis des Schlendrians ist hoch, wenn Steuererhöhungen zum letzten Mittel werden. Höhere Steuern vermindern die Kaufkraft, bremsen das Wirtschaftswachstum und verringern die Chancen jeder Regierung auf eine Wiederwahl.
Die Schweiz spart nicht aus Tugend, sondern aus Notwendigkeit
Schwaches Wachstum bei steigenden Schulden können sich im rasch alternden Europa immer weniger Länder leisten. «Tough choices» wären allenthalben nötig und sie werden immer dringlicher. Die Briten müssen sie jetzt fällen, weil sie dem Diktat des Kapitalmarktes nicht mehr entkommen können.
Keine Regierung sollte sich diese Lektion entgehen lassen. Schon gar nicht jene von kleinen Ländern wie der Schweiz. Trotzdem möchten manche politische Kreise hierzulande gerne glauben, die Haushaltsdisziplin sei zum Selbstzweck verkommen. Wahr ist aber, dass die helvetische Sparsamkeit keine Tugend, sondern eine Notwendigkeit ist, die mindestens so lange gelten muss, wie das Land eine eigene Währung behalten will. (aargauerzeitung.ch)
