Schweiz
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Vernier steht bald ohne Regierung und Parlament da

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Keine Provinzgemeinde, sondern die zweitgrösste Stadt im Kanton Genf: Vernier mit seiner markanten Le-Lignon-Siedlung.Bild: KEYSTONE

Diese grosse Schweizer Stadt steht bald ohne Regierung und Parlament da

Grösser als Zug oder Uster, aber ohne gewählte Politiker: Die Genfer Stadt Vernier dürfte wegen möglicher Wahlmanipulation national zum Sonderfall werden. Mittendrin: Pierre Maudets Partei.
28.05.2025, 07:2228.05.2025, 07:22
Julian Spörri / ch media
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Stellen Sie sich vor, eine Stadt in der Grösse von Uster ZH, Schaffhausen oder Zug steht plötzlich ohne Regierung und Parlament da. Genau dieses Szenario kommt per 1. Juni auf Vernier zu. Auch wenn die Genfer Gemeinde in der Deutschschweiz kaum bekannt ist, gehört sie mit 37'800 Einwohnerinnen und Einwohnern zu den zwanzig grössten Schweizer Städten.

Eigentlich hätten die in Vernier diesen Frühling gewählten Exekutivpolitiker am Dienstagabend ihren Eid ablegen sollen. So wie jene aus allen anderen Genfer Gemeinden auch. Der Verdacht auf Wahlmanipulation führt indes dazu, dass bei Vernier die Amtseinsetzung blockiert ist. «Das gibt ein schlimmes Bild von unserer Gemeinde ab», meint ein wiedergewählter FDP-Abgeordneter. «Wir wissen nicht, wie es nun weitergeht.»

Zweifel an panaschierten Stimmen

Doch von Anfang an: Im ersten Wahlgang Ende März gelang der von Pierre Maudet gegründeten Partei Liberté et Justice sociale (LJS) in Vernier der Einzug ins Parlament – als drittstärkste Kraft. Eine Analyse des Stimmverhaltens durch die «Tribune de Genève» brachte jedoch den Verdacht auf, dass etwas nicht mit rechten Dingen zu- und herging.

Über 600 Stimmzettel der LJS waren auf ähnliche Weise verändert worden: Einige Namen wurden gestrichen und systematisch durch zwei oder drei stets gleiche Kandidatinnen ersetzt. Es handelte sich um eine SP-Frau mit türkischen Wurzeln, eine FDP-Politikerin kamerunischer Herkunft und eine Vertreterin des Mouvement Citoyens Genevois (MCG) mit kosovarischen Wurzeln. Diesen drei eher unbekannten Politikerinnen gelangen Spitzenresultate.

Wieso sollten sich Wählerinnen und Wähler von Maudets Bewegung systematisch für drei Politikerinnen aus anderen Parteien entscheiden, ohne dass es eine offizielle Wahlempfehlung gab oder eine Mobilisierung entlang kultureller Linien plausibel erscheint?

Les affiches "Unis Pour Vernier" avec Martin Staub (PS), Mathias Buschbeck (Les Verts) et Gian-Reto Agramunt (PLR), du MCG avec Thierry Cerutti, et de "Libertes et justice sociale" ...
Die Bevölkerung von Vernier hat im Frühling gewählt – wer die Stadt führen wird, bleibt aber ungewiss.Bild: keystone

Sowohl aus dem Umkreis der Mitte als auch von den Grünen, der SP und der FDP wurde das Ergebnis der Parlamentswahlen angefochten. Die LJS-Partei reichte ihrerseits Ende April nach dem zweiten Wahlgang Beschwerde ein: Ihr Kandidat verlor im Vergleich zur ersten Runde massiv an Stimmen – als Folge der «tendenziösen» Berichterstattung über den Manipulationsverdacht, sind Maudets Anhänger überzeugt.

Zwangsverwaltung bleibt Seltenheit

Die Genfer Regierung wollte den Beschwerden die aufschiebende Wirkung verwehren, damit die Abgeordneten ihre Arbeit aufnehmen könnten. Vernier laufe sonst Gefahr, «mehrere Monate oder sogar Jahre» ohne Parlament dazustehen, bis die Justiz abschliessend entschieden habe, warnte der Staatsrat vor dem Verfassungsgericht. Ohne Erfolg: Bis die Vorwürfe abgeklärt sind, kommt für das Gericht eine Amtseinsetzung nicht infrage. Ein Urteil bis zum Legislaturstart am 1. Juni gilt als unrealistisch.

Gut informierte Quellen rechnen in den nächsten Wochen damit – wobei dann die Prozedur nicht zwingend zu Ende ist. Das Urteil könnte weitergezogen werden. Vernier versucht darum, seine Bürgerinnen und Bürger zu beruhigen: Die Verwaltung werde nicht zum Stillstand kommen, das Budget sei in Kraft, die Löhne würden bezahlt.

Der Kanton Genf arbeitet seinerseits an «etwa 20 verschiedene Szenarien», um für alles gewappnet zu sein. Der Staatsrat werde bei Bedarf und je nach Lageentwicklung rechtzeitig die nötigen Entscheidungen treffen, heisst es auf Anfrage. Er könnte zum Beispiel temporär Verwalter einsetzen.

Nationales Treffen im Brennpunkt

Solche Fälle von Zwangsverwaltung durch einen Kanton sind laut dem Schweizerischen Gemeindeverband hierzulande «sehr selten». Jüngere Beispiele umfassen das solothurnische Zullwil (2018) oder Vuisternens-en-Ogoz im Kanton Freiburg (2008) – kleine Gemeinden, keine Stadt. Das Westschweizer Fernsehen RTS spricht darum von einer nationalen Premiere, zumal in Vernier Exekutive und Legislative gleichzeitig ausfallen dürften.

Ein Ruhmesblatt kommunaler Politik ist die Genfer Gemeinde derzeit also nicht. Ausgerechnet hier aber trifft sich der Schweizerische Gemeindeverband am 6. Juni zu seiner jährlichen Generalversammlung. «Der diesjährige Austragungsort Vernier steht bereits seit dem letzten Sommer fest», teilt der Verband mit. Zufälle gibt's.

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73 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Oigen aka Trudi aka Kevin
28.05.2025 07:46registriert August 2018
Ganz allgemein und nicht auf Vernier bezogen.
Was reitet die Menschen dazu immer wieder Lügner, Betrüger, Korrupte, Vorbestrafte und Verurteilte zu wählen?
Weltweit das selber Phänomen, ich verstehe es schlicht nicht...
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Berner in Zürich
28.05.2025 08:38registriert August 2016
Ist zwar eine unschöne Geschichte, ABER man hatte es bemerkt. Somit bin ich mit unserem System zufrieden. Betrügereien kommen an den Tag.
Ein Vorteil, wenn in einem Land die Unabhängigkeit t der Judikative funktioniert.
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Mätse
28.05.2025 08:19registriert September 2015
Spannend ist hier ja nicht das Gerichtsurteil ob die Wahlen anerkannt werden und wie es weitergeht, sondern wie es zu den 600 seltsam veränderten Stimmzettel der LJS-Partei kam.
Da wurde doch etwas grösseres durchgeführt!
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