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Knatsch um Listenverbindung: «Die FDP begibt sich in Geiselhaft der SVP»

Andreas Glarner, SVP-AG, links, diskutiert mit Thierry Burkart, FDP-AG, an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Mittwoch, 5. Juni 2019 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Va ...
Andreas Glarner (SVP) und Thierry Burkart (FDP): Ihre Parteien gehen für die Parlamentswahlen Listenverbindungen ein. Bild: KEYSTONE

Knatsch um Listenverbindung: «Jede Stimme für die FDP ist auch eine für die Glarner-SVP»

Die FDP und die SVP gehen im Aargau und in Zürich Listenverbindungen ein. Das bringt der FDP viel Kritik ein und könnte die Partei Stimmen kosten.
30.06.2023, 06:00
Corsin Manser
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Listenverbindungen* sorgen im Normalfall für wenig Aufsehen. Doch dieses Jahr ist es anders. Am Mittwoch verkündete die Aargauer FDP-Präsidentin Sabina Freiermuth, dass ihre Partei mit der EDU und der SVP eine «Zweckgemeinschaft» eingehe. Die FDP Aargau erhofft sich durch die Listenverbindungen mit den beiden konservativen Parteien einen dritten Sitz bei den Nationalratswahlen im Herbst.

Viele Reaktionen

Die Nachricht der Listenverbindung sorgte für viele Reaktionen. So twitterte etwa Mitte-Präsident Gerhard Pfister: «Jede Stimme für die FDP Aargau ist mit der Listenverbindung auch potentiell eine Stimme für Andreas Glarner.»

Andreas Glarner ist der Präsident der Aargauer SVP. Ob er allerdings auf die Stimmen von anderen Listen angewiesen ist, ist fraglich. Bei den Nationalratswahlen 2019 wurde Glarner mit den drittmeisten Stimmen aller Aargauer Kandidaten in den Nationalrat gewählt.

Doch Glarner macht die Listenverbindung im Kanton Aargau brisant. Der Präsident der SVP Aargau stand in der Vergangenheit immer wieder wegen umstrittener Handlungen in den Schlagzeilen. 2019 stellte er im Netz eine Lehrerin an den Pranger. Sie fühlte sich danach nicht mehr sicher im Schulhaus und kündigte ihren Job. 2023 verbreitete Glarner die Handynummer einer Sozialarbeiterin aus Stäfa, auch sie wurde darauf bedroht.

«Es scheint, als ob sich die FDP im Aargau aufgegeben und in Geiselhaft der SVP begeben hat.»
Cédric Wermuth

«Mit der Listenverbindung wird jede Stimme für die FDP auch eine für die Glarner-SVP», sagt Cédric Wermuth gegenüber watson. «Es scheint, als ob sich die FDP im Aargau aufgegeben und in Geiselhaft der SVP begeben hat. Dabei wäre ein unabhängiger Freisinn für Lösungen in der Europafrage oder beim Klimaschutz wichtiger denn je.» Wermuth glaubt zudem, dass die Listenverbindung für die FDP sinnlos sei. «Sie sichert damit nur der SVP ein Restmandat.»

Juso-Präsident Nicola Siegrist veröffentlichte auf Twitter ein bearbeitetes Foto mit Herzchen auf den Augen von FDP-Präsident Thierry Burkart und Glarner. «Thierry Burkart, willst du wirklich mit Glarner ins Bett?», fragt Siegrist.

GLP-Nationalrat Beat Flach sagt gegenüber watson: «Ich habe schon Reaktionen von enttäuschten Freisinnigen bekommen, die sagen, sie würden nun halt die GLP-Liste wählen und ein, zwei FDPler auf unsere Liste schreiben, statt einen Andreas Glarner mit der FDP-Liste zu unterstützen.»

Er sei «verwundert», dass die FDP mit der SVP eine Listenverbindung eingehe, so Flach. Er erinnert daran, dass die SVP die FDP bei den letzten Wahlen noch als Ungeziefer plakatiert hat.

Mit diesem Sujet betrieb die SVP 2019 Wahlkampf.
Mit diesem Sujet betrieb die SVP 2019 Wahlkampf.bild: svp

Das sagt die FDP Aargau

«Interessanterweise gibt es fast keine Reaktionen, wenn die GLP mit den Grünen und der SP eine Listenverbindung eingeht», sagt die Aargauer FDP-Präsidentin Sabina Freiermuth gegenüber watson. Tatsächlich sind im Kanton Aargau auch diese drei Parteien und die Mitte mit der EVP eine Listenverbindung eingegangen.

Sie habe keine Angst, dass die FDP durch die Listenverbindung Wählerinnen und Wähler an die GLP oder Mitte verlieren könnte, sagt Freiermuth. Es sei wichtig, dass die Restmandate im bürgerlichen Lager blieben, das würden auch die FDP-Wählerinnen und -Wähler erkennen.

«Wir unterstützen den Politstil von Andreas Glarner klar nicht. Davon distanzieren wir uns.»
Sabina Freiermuth, FDP-Präsidentin Aargau

Im Gegensatz zu Wermuth hegt Freiermuth keinen Zweifel, dass die FDP einen zusätzlichen Sitz im Aargau gewinnen kann. «Mit der aktuellen Ausgangslage haben wir die grösste Chance auf einen dritten Sitz, wenn wir mit der SVP eine Listenverbindung eingehen», sagt Freiermuth. «Wie nett, dass sich Cédric Wermuth um die FDP sorgt. Ich sitze gerne mit ihm vor den Listenrechner, wenn er mir das nicht glaubt», scherzt die FDP-Frau.

Im ernsteren Tonfall meint sie: «Wir unterstützen den Politstil von Andreas Glarner klar nicht. Davon distanzieren wir uns.» Gleichzeitig betont sie aber: «Wer SP wählt, unterstützt einen Alain Berset, der behauptet, es gebe in gewissen Kreisen einen Kriegsrausch, nur weil diese Waffenexporte befürworten. Das ist auch ein Politstil, den wir nicht unterstützen.»

Das sagt der Politgeograf

Wie gross ist das Risiko, dass die FDP mit der Listenverbindung Wählerinnen und Wähler vergrault? «Wählerinnen und Wähler vom linksliberalen Rand der FDP werden sich vielleicht zwei Mal überlegen, ob sie den rechten Block stärken wollen. Bei den Überlegungen dürfte auch der provokative Politstil von Andreas Glarner eine Rolle spielen», sagt Politgeograf Michael Hermann. «Von den unzufriedenen FDP-Wählerinnen und -Wählern könnten sowohl die GLP als auch die Mitte profitieren.»

Michael Hermann, Geschaeftsfuehrer Forschungsstelle Sotomo, spricht waehrend einer Medienkonferenz zur neuen Love Life Kampagne des BAG, am Montag, 4. November 2019 im Medienzentrum Bundeshaus in Bern ...
Michael Hermann: «Die SVP und die FDP haben sich in den vergangenen Jahren angenähert.»Bild: KEYSTONE

«Je mehr über die Listenverbindung gesprochen wird, desto schlechter ist das für die FDP», meint Hermann. Gleichzeitig sagt er aber auch, dass die Listenverbindung zwischen den beiden Parteien ein Stück weit auf der Hand liegen würde. «Die SVP und die FDP haben sich in den vergangenen Jahren angenähert. Das liegt auch daran, dass das Europa-Thema nicht mehr Top-of-the-mind ist. Der Kulturgraben zwischen FDP und SVP ist kleiner geworden.» Rechnerisch könne die Listenverbindung am Ende durchaus Sinn machen und dem bürgerlichen Block einen Sitz sichern, so Hermann.

Listenverbindung im Kanton Zürich

Umstritten war auch schon die Listenverbindung zwischen der SVP und der FDP im Kanton Zürich. Die Delegierten der FDP fällten den Entscheid mit 82 zu 81 Stimmen äusserst knapp.

Regine Sauter, die für den Ständerat kandidiert, machte sich für die Zusammenarbeit stark. Es gelte das bürgerliche Lager zu stärken, auch wenn sie gewisse Äusserungen von SVP-Exponenten für «jenseits der Schmerzgrenze» halte, sagte sie vor rund zehn Tagen, als der Entscheid gefällt wurde.

Zahlreiche Exponentinnen der FDP Zürich stellten sich jedoch entschieden gegen die Listenverbindung. Nationalratskandidatin Esther-Mirjam de Boer schrieb auf Twitter: «Die Listenverbindung der FDP mit der SVP in meinem Wahlkanton Zürich schockiert viele Menschen in meinem Umfeld. Mich auch.»

Obschon die Meinungen in der FDP weit auseinander gehen, dürfte es noch zahlreiche weitere Listenverbindungen geben. Für die SVP ist es ein erklärtes Ziel, bei den nationalen Wahlen im Herbst mit der FDP in allen Kantonen Listenverbindungen einzugehen.

* Wie funktioniert eine Listenverbindung?
Der Bund erklärt es so:

Die bei der Division der Verteilungszahl in der Parteistimmenzahl unberücksichtigt bleibenden Reste, die sonst verloren gehen würden, kommen den Parteien zugute, deren Listen verbunden sind.

Beispiel:

Die Partei A hat eine Stimmenzahl von 4121
Die Partei B hat eine Stimmenzahl von 3912
Die Verteilungszahl beträgt 500

Ohne Listenverbindung erhält die Partei A 4121 : 500 = 8 Mandate; Rest = 121
Ohne Listenverbindung erhält die Partei B 3912 : 500 = 7 Mandate; Rest = 412
Verloren gehen also der Partei A: 121 Stimmen
Verloren gehen also der Partei B: 412 Stimmen
Total verlorene Stimmen 533 Stimmen

Bei Listenverbindung werden die Stimmen beider Parteien vorerst zusammengezählt, nämlich 4121 und 3912 = 8033.

Hierauf wird die Gesamtstimmenzahl 8033 durch die Verteilungszahl 500 dividiert; das ergibt 16 Mandate, also zugunsten der beiden Parteien 1 Mandat mehr als ohne Listenverbindung. Mit andern Worten: statt 533 gehen nur 33 Stimmen verloren.
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205 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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winglet55
30.06.2023 06:14registriert März 2016
Gut für die Stimmberechtigten ist, dass es wenigsten klar ist mit wem sich die FDP ins Bett legt. Ob Liebesheirat, Zweckehe oder Missverständnis, egal. Die Verantwortung liegt nun eindeutig beim Stimmvolk, ob sie diesen gewaltigen Rechtsrutsch goutiert oder nicht.
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ingmarbergman
30.06.2023 06:20registriert August 2017
Jede Stimme für die FDP ist eine Stimme für die SVP.
Dieser Satz muss bis im Herbst immer und immer wiederholt werden!
Es ist ja nicht, dass die FDP keine Wahl hätte. Sie könnte auch mit einer der demokratischen Parteien eine Listenverbindung eingehen. Aber sie entscheidet sich bewusst für die Gessler-Partei. Wo ist der moderne Tell wenn man ihn braucht?
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Der Pinguin
30.06.2023 06:49registriert September 2016
«Interessanterweise gibt es fast keine Reaktionen, wenn die GLP mit den Grünen und der SP eine Listenverbindung eingeht» - was Freiermuth da sagt, ist genau das problematische der heutigen FDP, und ich denke Burkart. Man hat derart starke Abneigungen gegen Grüne und Linke politik, dass man sich lieber mit Fascho-Hertzern gemein macht und damit sämtliche liberalen Traditionen über Bord wirft.

Natzürlich gibt es auch SVPler, die auf dem Boden der Verfassung stehen, bspw. im Thurgau, aber im Aargau kannst du einfach nicht mit der SVP eine Listenverbindung eingehen.
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