Zum ersten Mal leben seit Mitte Jahr laut dem Bundesamt für Statistik über 9 Millionen Menschen in der Schweiz. Die Nachricht sorgt für Kritik. «Genug ist genug», titelte die SVP und selbst SP-Nationalrätin Jacqueline Badran kritisiert die Zuwanderung, die das Wachstum massgeblich treibt, als «zu hoch und zu schnell».
Doch wie schlimm sind die Folgen des Wachstums tatsächlich? Wo herrscht Dichte und Wohnungsnot, wo sind die Züge und Strassen voll? CH Media hat Daten aus verschiedenen Quellen zusammengetragen. Die Analyse zeigt: Die Unterschiede sind regional gross – genauso wie die Probleme.
Zählte die Schweiz 1995 noch 7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, sind es nun über 9 Millionen. Doch nicht alle Kantone sind gleich beliebt. Zwischen 1995 und 2022 wuchs besonders der Kanton Freiburg stark: Um 48,8 Prozent nahm seine Einwohnerzahl zu. Es folgen die Kantone Zug mit einem Plus von 42 Prozent und Waadt mit 37,1 Prozent.
An anderen Kantonen ging die Bevölkerungszunahme vorbei: Uri legte zwischen 1995 und 2022 nur gerade um 4 Prozent zu, Appenzell Ausserrhoden um 3,1 Prozent. Mit einem Wachstum von 0,5 Prozent beinahe gleich gross wie vor fast dreissig Jahren ist der Kanton Basel-Stadt.
Werden Grossregionen gemäss der Definition des Bundes verglichen, schwingt Zürich obenaus. Hier wohnen 34,4 Prozent mehr Menschen als 1995. Ähnlich dynamisch entwickelte sich die Genferseeregion mit den Kantonen Genf, Waadt und Wallis. Ein schwaches Wachstum verzeichneten das Tessin mit einem Plus von 16 Prozent und die Region Espace Mittelland rund um Bern mit 17 Prozent.
Die Zuwanderung aus dem Ausland ist von der wirtschaftlichen Entwicklung getrieben. Auch diesbezüglich sind die Unterschiede gross.
Im zweiten und dritten Sektor – also in der Industrie und im Dienstleistungssektor – wurden seit 1995 besonders in der Genferseeregion Stellen geschaffen. Sie kommt per Ende Juni auf 47,6 Prozent mehr Vollzeitäquivalente (VZÄ) als 28 Jahre zuvor, gefolgt von der Zentralschweiz mit einem Plus von 45,7 Prozent und dem Kanton Zürich mit 36,2 Prozent. Nur 18,3 Prozent mehr Stellen wurden in der Region Nordwestschweiz gezählt.
Die Gründe für die unterschiedliche Entwicklung sind vielfältig. Die Westschweiz boomt auch dank hoher Einwanderung. Viele Zentralschweizer Kantone wiederum senkten Steuern und lockten Firmen an. Die Innerschweiz konnte aber auch die Industrie halten: Der 2. Sektor zählt dort knapp 6 Prozent mehr VZÄ als noch 1995 – anders als der Kanton Zürich, der über 17 Prozent seiner Industriejobs verlor, dafür im Dienstleistungssektor so stark zulegte wie keine andere Region.
In Sachen Stellen weniger dynamisch entwickelte sich die Region Espace Mittelland, die auch von der öffentlichen Verwaltung geprägt ist, und die Nordwestschweiz mit beiden Basel und dem Aargau. Die Unterschiede innerhalb dieser Region sind aber gross: So wuchs der Aargau einwohnermässig stark, was viele neue Stellen bedeutet – neue Einwohner brauchen automatisch mehr Schulen, Läden oder Dienstleistungen – während Basel-Stadt stagnierte.
Wo Menschen leben, braucht es Wohnungen. Doch die Wohnbautätigkeit hält vielerorts nicht Schritt mit der steigenden Nachfrage, was zu höheren Mietpreisen und tiefen Leerstandsquoten führt. In der Stadt Zürich standen per 1. Juni nur gerade 0,06 Prozent der Wohnungen leer. Ein gesunder Wohnungsmarkt sollte eine Quote von 2 bis 3 Prozent aufweisen.
In den 90er-Jahren sank die Wohnbautätigkeit als Folge des Immobiliencrashs Anfang des Jahrzehntes in den meisten Grossregionen, bevor sie wieder an Fahrt aufnahm. Konstant weniger Wohnungen gebaut als 1995 wurden bis und mit 2021 in der Ost- und Zentralschweiz. Auf der anderen Seite wurden in der boomenden Genferseeregion viele der benötigten Wohnungen auch tatsächlich gebaut: 2021 entstanden dort zwei Drittel mehr neue Wohnungen als 1995. Auch im Tessin und in der Region Zürich war die Neubautätigkeit in den letzten Jahren relativ hoch.
Am stärksten wuchsen in den letzten Jahren nicht die grossen Städte, wo der Platz für neue Wohnungen zusehends knapp wird, sondern die Agglomerationen. Trotzdem sind die Städte die mit Abstand am dichtesten besiedelten Gebiete der Schweiz.
Doch gibt es dort immer mehr Dichtestress? Die bereits dichte Stadt Basel ist heute etwa gleich bevölkert wie 1995. In Genf hingegen wohnen mittlerweile mehr Menschen pro Quadratkilometer als im – ungleich grösseren – New York City. Die Stadt hatte seit 1990 die höchste Zunahme in Sachen Einwohner pro Quadratkilometer, gefolgt von Zürich und Lausanne. Zürich ist mittlerweile dichter als Wien und Lausanne und hat zu Berlin aufgeschlossen. Die übrigen Schweizer Städte sind aber gemütlicher als europäische Metropolen – ganz zu schweigen von den Megacities in Asien.
Im ganzen Land wohnen heute mit 217 Menschen pro Quadratkilometer 50 mehr als vor gut 30 Jahren. Die Schweiz ist dichter besiedelt als Italien, Frankreich und Österreich, aber weniger dicht als Deutschland.
Ein Blick auf ausgewählte Autobahnabschnitte zeigt: Dass die Strassen immer voller wurden, stimmt, aber in unterschiedlichem Ausmass. Wo sie ausgebaut wurden, nahm auch der Autoverkehr zu. Ein eindrückliches Beispiel ist der Ausbau des Bareggtunnels. Nachdem dieser 2004 um eine dritte Röhre erweitert wurde, explodierte die Zahl der Fahrzeuge. Dass neue Strassen neue Nachfrage generieren, wird mit dem Begriff «induzierte Nachfrage» beschrieben.
Das Verkehrswachstum auf den Schweizer Autobahnen flachte bereits vor der Coronakrise ab. Während der Krise ging der Autoverkehr stark zurück und hat sich teils noch nicht erholt. Trotz der medialen Präsenz vergleichsweise wenig nahm der Verkehr in den letzten 20 Jahren am Gotthard zu. Im Jahr 2019 waren dort 10,3 Prozent mehr Fahrzeuge unterwegs als 2002 – ein schwächeres Wachstum als jenes der Bevölkerung.
Induzierte Nachfrage gibt es auch auf der Schiene. Zwischen 1998 und 2019 wurde auf der Lötschberg-Linie dank dem neuen Basistunnel mit einem Plus von etwa 120 Prozent mehr als eine Verdoppelung der Passagierzahlen registriert. Auf der Mittellandstrecke Zürich-Aarau wurden am Heitersberg im Jahr 2019 vor der Coronakrise etwa 130 Prozent mehr Passagiere gemessen als 1998, was auch an Ausbauten liegen dürfte. Fast kein Wachstum wurde hingegen auf den Zügen durch den Simplon festgestellt.
In absoluten Zahlen ist der öffentliche Verkehr vor allem in der Region Zürich gefragt. Letztes Jahr waren in den Zügen, die auf der Strecke Zürich-Winterthur an Effretikon ZH vorbeikommen, täglich 87'000 Menschen unterwegs. Die Nachfrage war coronabedingt noch tiefer als vor der Krise, dieses Jahr könnten es 100'000 Passagiere oder mehr werden.
Ebenfalls viele Passagiere sind mit dem Zug zwischen Zürich und Aarau und Olten und Bern unterwegs. Gezählt werden auch jene, die in durchfahrenden Zügen sitzen – also bei der Zählstelle Mattstetten etwa Reisende in Nonstop-Intercity-Zügen zwischen Zürich und Bern. Im Durchschnitt ist aber weiterhin nicht einmal jeder dritte Platz pro Zug besetzt. Dichtestress sieht definitiv anders aus.
Schon mal was von Rush Hour gehört?