Das Thema Migration ist gegenwärtig sehr präsent und wird im Wahljahr 2023 eine wichtige Rolle spielen. Ist der Migrationsdruck auf die Schweiz wirklich so hoch?
Anita Manatschal: Interessant ist, dass der Fokus der öffentlichen Debatte meistens auf der Immigration liegt. Dabei gibt es auch viele Leute, die die Schweiz verlassen. Für eine gesamtheitliche Betrachtungsweise muss deshalb der Migrationssaldo angeschaut werden. Sprich: die Anzahl der Menschen, die einwandern, abzüglich jener Personen, die das Land verlassen.
Wie hat sich der Migrationssaldo entwickelt?
Er war in den vergangenen 30 Jahren bemerkenswert stabil und immer positiv. Es gab natürlich kurzfristige Schwankungen. Etwa Mitte der 90-Jahre, als die Zuwanderung aufgrund der Konjunkturlage zurückging. In den Jahren 2007 und 2008 erlebten wir hingegen eine starke Zunahme.
Ist die Asylstatistik ebenfalls so stabil?
Bei der Asylstatistik gibt es stärkere Veränderungen, insbesondere wellenartige Ausschläge nach oben, die jeweils klar in Zusammenhang mit Konflikten stehen – etwa im Zuge des Arabischen Frühlings in den Jahren 2015 und 2016 oder jetzt im Zuge des Ukrainekriegs. Diese kurzfristig rapiden Anstiege von Personen auf der Flucht, die sich jeweils in einem starken Anstieg von Asylanträgen niederschlagen, ebben in der Regel ebenso dynamisch wieder ab.
Was für Leute kommen hauptsächlich in die Schweiz?
Im Normalfall stammen mehr als zwei Drittel der jährlich neu zugewanderten Migranten aus EU-/EFTA-Ländern. Meistens aus Deutschland, Frankreich oder Italien. Das verbleibende Drittel wird angeführt durch Leute aus den USA, Grossbritannien, China, Indien und der Türkei. Geflüchtete Personen machen insgesamt einen geringen Anteil der in der Schweiz wohnhaften ausländischen Bevölkerung aus. Mehr als 90 Prozent der Migranten sind wegen der Arbeit, des Studiums oder aus sozialen Gründen hier.
Kommen wir auf die Asylbewerber zu sprechen. Weshalb kommen sie in die Schweiz? Suchen sie wirklich Schutz oder wollen sie einfach ein besseres Leben?
Wie gross der Anteil jener ist, die tatsächlich einen Schutz verdienen, wird im Asylverfahren ermittelt. In der Schweiz ist der Anteil schutzwürdiger Personen relativ hoch. Klammert man Nichteintretensentscheide aus – darunter mehrheitlich Fälle, in denen sich die Schweiz als nicht zuständig erachtet für ein Asylgesuch –, so wurde in diesem Januar für knapp 73 Prozent der erledigten Asylgesuche ein Schutzstatus ausgesprochen. Es gibt gewisse Schwankungen, aber diese Zahlen sind relativ konstant.
Viele europäische Staaten setzen auf eine Abwehr von flüchtenden Personen. Sie fordern Zäune und Mauern. Kann man die Flüchtenden dadurch wirklich abhalten?
Dazu gibt es interessante Forschung aus den USA. Ein Soziologe hat untersucht, was passiert, wenn die USA ihre Kontrolle an der Grenze zu Mexiko erhöhen.
Was ist herausgekommen?
Je grösser die Kontrolle an der Grenze ist, desto mehr Leute kommen. Trotz der Abschottung wollten sehr viele Migranten in die USA. Mit der Verstärkung der Grenze wurde also genau das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt. Es stellt sich natürlich immer die Frage nach der Kausalität und welche Einflüsse sonst noch eine Rolle gespielt haben. Dieses Beispiel zeigt jedoch, dass verstärkte Grenzen nicht unbedingt nützen, um die Migration zu reduzieren.
Welche Erfahrungen hat man in Europa gemacht?
Dort sieht man Ähnliches. Mauern und Zäune führen dazu, dass die Leute illegale Routen wählen. Sie müssen Schmugglern hohe Summen bezahlen, um über die Grenzen zu kommen. Verstärkte Grenzen fördern die Kriminalisierung der Migration.
Die Länder an der EU-Aussengrenze fordern seit Langem einen gerechteren Verteilschlüssel der Flüchtlinge. Können Sie diese verstehen?
Im Moment ist es ja so, dass die Länder für das Asylgesuch zuständig sind, in denen Personen auf der Flucht ankommen. Das sind vor allem die Länder im Süden und im Osten Europas. Denn Asylsuchende kommen in der Regel nicht mit dem Flugzeug nach Europa. Dass man es nicht geschafft hat, die Verteilung flüchtender Personen besser zu regeln, ist eine Dysfunktionalität des europäischen Systems.
Wieso findet man da keine fairere Lösung?
Der Hauptgrund ist die Souveränität der einzelnen Staaten. Viele Staaten sind keine Teamplayer und sind nicht bereit, faire Aufnahmequoten zu akzeptieren.
Zurück zur Schweiz: Im Jahr 2007 lebten sieben Millionen Menschen im Land, bald sind es neun Millionen. Muss die Schweiz weiter wachsen, um zu überleben?
Für den Erhalt unseres Wirtschaftssystems und unserer Sozialwerke ist Migration eine demografische Notwendigkeit. Wir brauchen jetzt junge Arbeiter und Arbeiterinnen, die in unsere Sozialwerke einzahlen, wenn wir die Generationensolidarität gewährleisten und dereinst eine Altersrente beziehen wollen. Für diese Arbeitskräfte sind wir auch auf Migration angewiesen.
Wird der Migrationssaldo in die Schweiz positiv bleiben?
Prognosen sind in Sozialwissenschaften sehr schwierig, da zukünftige Ereignisse und deren Einfluss auf Bevölkerungsbewegungen schwer vorhersagbar sind. Der Ukrainekrieg oder der Arabische Frühling hatten zum Beispiel einen starken Einfluss auf die Migration. Aber ich gehe davon aus, dass sich die Migrationsströme in die Schweiz nicht grundsätzlich ändern. Der Migrationssaldo war in den vergangenen Jahren ziemlich konstant und bei den europäischen Regulierungen zeichnen sich keine grundlegenden Veränderungen ab. Allerdings gibt es einen grossen Unsicherheitsfaktor.
Der wäre?
Der Klimawandel. Klimaflüchtlinge werden zu einem zentralen Thema werden. Ressourcen werden knapper, was zu Konflikten und Veränderungen der Migrationsströme führen kann.
Das nennt sich dann ein Schneeballsystem, indem es immer noch mehr Zuwanderung braucht, um all den zuvor Zugewanderten (und der einheim. Bevölkerung) noch die Rente zu sichern...
Es mag gute Gründe für Zuwanderung geben (z.B. Fachkräftemangel, gerade auch in der Alterspflege), aber die finanzielle Stärkung unserer Sozialwerke und des Generationenvertrags gehört sicher nicht dazu - ausser es ist einem egal, was dann mit der nächsten Generation passiert.
Das AHV-Argument muss zudem nicht mit Einwanderung sondern mit einem Systemwechsel gekontert werden.