Die Genfer spötteln selber darüber. Die sogenannten Genfereien, die ewigen Streitereien über Wichtiges und weniger Wichtiges. Der Begriff hat etwas Negatives. Nicht so für Pierre Maudet. Vor einem Jahr schrieb der Genfer Magistrat in seiner letzten «Blick»-Kolumne über die Genferei: «Es ist ein Weg, um sich irgendwie Gehör zu verschaffen im Rest der Schweiz.» Und: «Die Genferei steht auch für das Ankämpfen gegen Widerstände von allen Seiten.»
Maudet hat sich als Meister der Genferei erwiesen. Man könnte auch von «Maudetrei» sprechen. Während man in der Deutschschweiz ungläubig den Kopf darüber schüttelt, dass der 41-Jährige noch immer als Staatsrat amtet, erachtet Maudet seinen Verbleib als Selbstverständlichkeit, auch wenn ihm seine Regierungskollegen die wichtigsten Aufgaben weggenommen haben. Denn gegen Maudet läuft wegen seiner Reise nach Abu Dhabi ein Strafverfahren wegen Verdachts auf Vorteilsannahme (siehe Chronik).
CH Media arrangiert mit Maudet nach den eidgenössischen Wahlen Mitte Dezember einen Interviewtermin. Man könne das Gespräch auf Deutsch führen, sofern er die wichtigsten Fragen im Vorfeld zur Vorbereitung erhalte, so die Abmachung. Dies, obwohl er während seiner Bundesratskandidatur 2017 und danach diverse Interviews auf Deutsch gab. CH Media willigt ein und schickt eine ausführliche Themenliste.
Der Magistrat empfängt die beiden schreibenden Journalisten in seinem Büro in der Genfer Altstadt, an einem Mittwoch. Er ist gut vorbereitet, hat sich Antworten notiert. Er wirkt gut gelaunt und gibt sich angriffslustig, wie man ihn von seiner Bundesratskandidatur in Erinnerung hat. Kein Wunder, war er der Liebling der Medien. Er teilt gegen den Bundesrat aus, der noch immer aus grauen Mäusen bestehe, gegen die verpolitisierte Genfer Justiz, die noch immer kein Urteil in seinem Fall gefällt habe, und gegen seinen FDP-Kollegen Christian Lüscher, der nach den Wahlen seinen Rücktritt forderte. Er betont, nicht die Medien sollen über ihn richten und dass es keine perfekten Politiker gebe. Er spricht von «Verrat» und «Messer in meinem Rücken». Die Affäre sei aufgebauscht und eine Folge seiner Reform der Genfer Polizei. Auch zum Gerücht, dass er plane, eine eigene Partei zu gründen, nimmt er Stellung.
Gegen Schluss kontrolliert Maudet seine Notizen, schaut, ob die Journalisten alles gefragt haben. Dann kehrt Maudet die Konstellation um und will von der Politikchefin wissen, wie er auf sie wirke im Vergleich zum letzten Interview im Rahmen seiner Bundesratskandidatur. Die Antwort, es wirke, als habe er sich überhaupt nicht verändert, dass er kein Schuldbewusstsein an den Tag lege und so agiere, als wenn nichts gewesen wäre, scheint ihn nicht gross zu stören. Er geniesst den Schlagabtausch mit verschmitztem Lächeln. Er betont, dass er sich unschuldig fühle und nicht bloss für seine Abu-Dhabi-Reise in Erinnerung bleiben wolle.
Er verabschiedet sich höflich und man verbleibt, dass man ihm den Interviewtext so rasch wie möglich schicken werde – so wie es im Journalismus Usus ist. Der Interviewte hat das Recht auf das Gegenlesen des Textes. Dort kann er Änderungen anbringen im Sinne der Präzisierung oder Fehlervermeidung. Der Kern der Aussagen darf nicht geändert werden.
So weit, so normal. Doch nun beginnt die «Maudetrei». Zwei Tage nach dem Interviewtermin, an einem Freitag, wird bekannt, dass Maudets politischer Verbündeter Simon Brandt von der Polizei verhaftet wurde. Die Frage steht im Raum, ob Brandt Maudet vertrauliche Informationen weitergab. Am selben Tag erhält Maudet den Interviewtext zum Gegenlesen und verspricht, bis am Montagmorgen seine Korrekturen zu schicken.
Doch so weit kommt es nicht. Erst am Montagnachmittag meldet sich Maudet per Mail: Er habe zwei Stunden für den Text aufgebracht und müsse enorm viele Korrekturen anbringen aufgrund der Übersetzung aus dem Deutschen ins Französische. Es gebe einige Fehler, und er sehe sich überhaupt nicht korrekt dargestellt. Und sowieso: Wegen der Aktualität (er meint die Verhaftung Brandts) müsse er sich für den Rest des Wochenendes diesem Thema widmen. Er sei untröstlich, aber «Genf ist definitiv speziell».
Es folgen Weihnachtsferien und man verbleibt, Anfang Januar den Kontakt wieder aufzunehmen. Drei Wochen Funkstille auf beiden Seiten. Start ins neue Jahr: «Bonjour Monsieur Maudet.» Die Journalisten bitten den Politiker per Mail um konkrete Korrekturen. Antwort Maudet, zwei Tage später: «Ich bin in Interlaken an einem Seminar mit den Staatsräten bis Freitag und werde deshalb Mühe haben, die nötige Zeit dafür aufzubringen.»
Er schlägt vor, dass man sich in der Woche darauf zu einem Mittagessen trifft, um das Interview zu besprechen. Schliesslich müsse man auch über die Affäre Simon Brandt diskutieren. Erneut willigen die Journalisten ein, mit der wiederholten Bitte, er solle noch in der laufenden Woche den korrigierten Text schicken. Auch dazu kommt es nicht. Maudet schreibt gegen Ende Woche, um 4.33 Uhr, er werde über das Wochenende versuchen, an einer neuen Version zu arbeiten.
Es folgt der Schlichtungslunch. Mittlerweile ist es Mitte Januar. Ein Restaurant in der Genfer Altstadt, Maudet wartet im oberen Stock an einem Tisch in der Ecke. Vor ihm liegt ein Mäppchen mit dem Interview. Kleine Notizen sind ersichtlich. Maudet spricht viel, charmant. So, als wenn nichts gewesen wäre. Erst auf Nachfrage nimmt er zum Text Stellung. Allerdings nicht zu konkreten Passagen. Seine Situation habe sich verändert mit der Verhaftung von Brandt, und auch im Staatsrat sei einiges im Gange. Kurz: Das Timing passt ihm nicht. Er schlägt vor, das Interview später zu wiederholen.
Die Journalisten gehen den Deal nicht ein und verlangen die versprochenen Korrekturen. Maudet erhält eine neue Deadline: Freitag, 17. Januar. Maudet akzeptiert. In der Zwischenzeit ist bekannt geworden, dass Maudet im Herbst 2019 gegenüber der Staatsanwaltschaft ausgesagt haben soll, dass der Ex-Staatsratspräsident François Longchamp ebenfalls Geld von der Firma Manotel erhalten habe – so wie es Maudet vorgeworfen wird.
Es ist Freitag, 23:57 Uhr, 3 Minuten vor Ablauf der Deadline, als Maudets E-Mail eintrifft. Und voilà: Er schickt eine neue Version des Interviews. Doch ein Drittel ist komplett gestrichen, gut die Hälfte der verbliebenen Antworten auf Französisch neu formuliert. Beim gelöschten Teil handelt es sich um den letzten Teil des Gesprächs, als Maudet um eine Evaluierung seiner Selbst bat. Maudet schreibt, diese Aussagen seien off-the-record gewesen, also nicht zum Zitieren. Dabei weiss jeder Politiker mit etwas Berufserfahrung, dass nur off-the-record ist, was als solches deklariert wird. Maudet unterliess dies, die Aufnahme des Gesprächs lief stets weiter.
Den Journalisten ist klar: Maudet spielt ein Spiel. Doch angesichts der bereits investierten Zeit spielen sie das Spiel weiter. Sie übersetzen Maudets Antworten auf Deutsch, redigieren sie leicht und fügen Kernaussagen aus dem letzten, gestrichenen Drittel ein. Sie glauben, eine Lösung gefunden zu haben, mit der alle leben können.
Am Freitag, 24. Januar, erhält Maudet die finale Version. Detailkorrekturen solle er bis am Montag schicken. Seine Antwort folgt, und hier erreicht die «Maudetrei» ihre Spitze: «Ich danke ihnen, ganz ehrlich, für Ihre Bemühungen», schreibt der Magistrat. «Aber...». Dieser Text weiche von seiner Version massiv ab, enthalte neue Elemente, er erkenne sich darin nicht und er könne das Interview auf keinen Fall freigeben. Stattdessen schlägt er eine Wiederholung des Interviews vor. Schon wieder.
Das war’s. Die Journalisten geben Maudet bekannt, dass das Interview nicht erscheint und sie stattdessen einen Artikel darüber schreiben. Einen neuen Interviewtermin wird es nicht geben. Obwohl der Genfer bestimmt auch da wieder charmant und angriffslustig auftreten würde.
So, als ob nichts gewesen wäre.