Er galt als eine Art Wunderkind nicht nur der Genfer, sondern der Schweizer Politik. Vor einem Jahr verpasste FDP-Regierungsrat Pierre Maudet die Wahl in den Bundesrat gegen Ignazio Cassis um 35 Stimmen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachten damals viele. Über kurz oder lang würde das politische Ausnahmetalent den Sprung in die Landesregierung schaffen.
Heute stellt sich die Frage, ob der 40-jährige Maudet überhaupt noch eine politische Zukunft hat. Letzte Woche musste er sich bei der Genfer Bevölkerung dafür entschuldigen, dass er «einen Teil der Wahrheit» über eine angeblich private Reise an ein Formel-1-Rennen im Emirat Abu Dhabi verschwiegen hatte. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft gegen ihn Ermittlungen aufgenommen.
Wie konnte es so weit kommen? Eine Chronologie der Affäre Maudet:
Pierre Maudet ist ein Senkrechtstarter. Mit 15 Jahren gründete er das Genfer Jugendparlament. Mit 21 wurde er ins Genfer Stadtparlament und mit 29 in die Stadtregierung gewählt. 2012 folgte die Wahl in den Kantonsregierung. Als Vorsteher des Sicherheitsdepartements machte sich der Jurist einen Namen als Kämpfer für Law and Order. Mit seiner Offenheit für soziale Anliegen fand der Freisinnige aber auch einen Draht zu der in Genf traditionell starken Linken.
Im Mai 2015 reist Pierre Maudet in offizieller Mission nach Dubai. Dort kommt es zu einem Treffen mit Mohammed bin Zayed al-Nahyan, dem Kronprinzen des Emirats Abu Dhabi. Was besprochen wurde, ist unklar. Jedenfalls fliegt Maudet im November nach Abu Dhabi, begleitet von seiner Frau und den drei Kindern, Stabschef Patrick Baud-Lavigne und dem Geschäftsmann Antoine Daher.
Die Delegation reist in der Business Class mit Etihad, der Airline des Emirats, und nächtigt im luxuriösen Hotel Emirates Palace. Anlass für den viertägigen Aufenthalt ist der Formel-1-Grand-Prix von Abu Dhabi. Drei Monate später wird die Konzession für die Bodenabfertigung am Genfer Flughafen, der Maudets Departement untersteht, neu ausgeschrieben. Den Zuschlag erhält die bisherige Betreiberin, eine Firma aus den Emiraten. Andere Bewerber gehen leer aus.
Der Journalist Raphaël Leroy, der für die Zeitung «Le Matin Dimanche» arbeitet, stösst auf den Formel-1-Trip der Familie. Er findet heraus, dass Pierre Maudet in Abu Dhabi den Kronprinzen erneut getroffen hat. Per Mail mit der Recherche konfrontiert, behauptet der Sicherheitsdirektor, die Reise sei privat gewesen. Er bestreitet, dass er von Mohammed bin Zayed al-Nahyan eingeladen wurde, gibt aber zu, dem Prinzen im Hotel «zufällig» über den Weg gelaufen zu sein.
Tags darauf meldet sich Maudet erneut per Mail bei Leroy. Er behauptet, mit Frau und Kindern in einem Doppelzimmer (es war eine Luxussuite) übernachtet und 4000 Franken für die Business-Class-Flüge der fünfköpfigen Familie bezahlt zu haben. Dies reicht bestenfalls für eine Person. Raphaël Leroy erkennt die Widersprüche, doch die Zeitung veröffentlicht seine Recherche nicht.
Aufgrund der Recherchen verfasst ein Beamter der Genfer Finanzpolizei einen Bericht und schickt ihn im August 2017 an die Staatsanwaltschaft. Diese leitet ein Verfahren «gegen unbekannt» ein. Zur gleichen Zeit kandidiert Pierre Maudet für die Nachfolge von FDP-Bundesrat Didier Burkhalter. Er beeindruckt mit seinem Charme und seiner Eloquenz, auch auf Deutsch.
Die FDP durchleuchtet die Kandidaten, um peinliche Enthüllungen zu vermeiden. Pierre Maudet verschweigt die Reise nach Abu Dhabi und wird im Wahlkampf auch kaum darauf angesprochen. Bei der Wahl am 20. September gelingt ihm ein Achtungserfolg, nicht zuletzt dank den Stimmen der Linken. Er liegt vor der in Bern bestens bekannten Nationalrätin Isabelle Moret.
Am 15. April 2018 erreicht Maudets Karriere einen neuen Höhepunkt. Als einziger Kandidat schafft er bei der Genfer Regierungsratswahl gleich im ersten Wahlgang das absolute Mehr. Er wird Regierungspräsident. Einen Monat später konfrontieren ihn die «Tribune de Genève» und Radio Lac – Raphaël Leroy ist dort inzwischen Chefredaktor – mit neuen Erkenntnissen. So hat Pierre Maudet auf seiner Reise auch das Sicherheitszentrum der Formel-1-Rennstrecke besucht.
Nun wird auch die laufende Untersuchung der Staatsanwaltschaft publik. Pierre Maudet behauptet, die Reise sei von einem Geschäftsmann namens Said Bustany bezahlt worden. Die 4000 Franken habe er als «Kompensation» für den Flug an die reformierte und die katholische Kirche bezahlt. Er habe «ein ungutes Gefühl» wegen der Reise gehabt, gibt er zu. Die Kantonsregierung spricht ihrem Präsidenten das Vertrauen aus, die Affäre scheint vorerst entschärft.
Am 30. August gibt die Genfer Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie gegen Pierre Maudet wegen Vorteilsnahme ermittelt. Sie bringt sein Lügengebäude zum Einsturz. Demnach reisten der Fast-Bundesrat und seine Familie auf Einladung des Kronprinzen nach Abu Dhabi. Er habe die Flüge und die Unterkunft bezahlt. Said Bustany habe mit der Reise nichts zu tun gehabt. Diese Version sei von den Beteiligten abgemacht worden, um die wahre Finanzquelle zu vertuschen.
Die Staatsanwaltschaft beziffert den Betrag auf mehrere zehntausend Franken. Sie äussert weiter den Verdacht, dass die Reise von Personen aus der Genfer Immobilienbranche eingefädelt wurde. Am gleichen Tag wird Patrick Baud-Lavigne während mehreren Stunden einvernommen. Auch gegen den inzwischen zurückgetretenen Stabschef wird ermittelt.
Auf dem Lokalsender Léman Bleu gibt Maudet am 5. September zu, «einen Teil der Wahrheit verheimlicht zu haben». Als er bemerkt habe, dass ein ausländischer Staat die Reise bezahlte, habe er dies unerträglich gefunden und versucht, diese Tatsache zu kaschieren. Er habe seine Familie schützen wollen. Dadurch sei er in eine Negativspirale geraten. Er bedaure dies zutiefst und entschuldige sich bei der Genfer Bevölkerung, sagt Maudet. Einen Rücktritt schliesst er aus.
Die Regierung entzieht ihm verschiedene dem Präsidium verbundene Vorrechte. Am Donnerstag gibt er das Präsidium und die Aufsicht über Polizei und Flughafen «vorübergehend» ab. Am 20. September entscheidet das Kantonsparlament über die Aufhebung von Maudets Immunität. Keine Partei wehrt sich dagegen, auch die FDP geht auf Distanz zum einstigen Strahlemann. Pierre Maudet stimmt der Aufhebung zu. Er wolle mit der Staatsanwaltschaft vollumfänglich kooperieren.
Die «Rundschau» von SRF erhebt am 12. September neue Vorwürfe gegen Maudet. Demnach stecken die mutmasslichen Organisatoren der Reise nach Abu Dhabi auch hinter einer Grossüberbauung, die am Genfer Flughafen geplant ist. Dafür muss das Parlament eine Umzonung bewilligen. Pierre Maudet wies einen möglichen Interessenkonflikt gegenüber der «Rundschau» zurück.
Die Affäre Maudet ist ideales Futter für eine Boulevardzeitung. Der «Blick» allerdings hält sich seltsam zurück. In der Zeitung erschienen nur zwei Kurzmeldungen. In der Online-Ausgabe war die Berichterstattung ausführlicher. Des Rätsels Lösung: Seit Anfang Jahr erscheint alle zwei Wochen eine Kolumne von Pierre Maudet im «Blick».
Ein Ringier-Sprecher sagte dem «Tages-Anzeiger», Maudet sei «weiter unser Kolumnist aus der Westschweiz». Am Mittwoch erschien der neuste Text. Darin schreibt der Regierungspräsident über Wein, unter dem Titel «In vino veritas» – im Wein liegt Wahrheit. Wie sagt man in solchen Fällen auf Französisch: Honni soit qui mal y pense – ein Schuft, wer schlechtes dabei denkt.