Wenn ein Mann sein Kondom heimlich und ohne Einwilligung der Partnerin oder des Partners abstreift und den Sex fortführt, dann nennt man das «Stealthing». Es kommt vom englischen Wort «the stealth», was Heimlichkeit oder List bedeutet.
Diese Art von Missbrauch hat nun zwar einen Namen, juristisch ist es allerdings noch Neuland. Erst wenige Fälle von Stealthing landeten vor Gericht. Die Urteile fielen unterschiedlich aus. Eine richtungsweisende Rechtsprechung fehlt bisher.
Darum ist der Fall, der heute am Zürcher Obergericht verhandelt wird, so brisant. Einem Mann wird vorgeworfen, während dem Sex das Kondom abgestreift zu haben, ohne dass die Frau darüber Bescheid wusste. Im Februar wurde er in erster Instanz vom Vorwurf der Schändung freigesprochen. Der Staatsanwalt ging in Berufung. Nun befindet das Obergericht über den Fall. Das Urteil könnte von wegweisender Relevanz sein.
Die wichtigsten Fragen im Überblick.
Zwei Studenten, er damals 19-jährig, sie 18 Jahre alt, lernten sich im September 2017 auf Tinder kennen und verabredeten sich für ein Date. Sie verbrachten den Abend zusammen und gingen anschliessend in die Wohnung der Frau. Dort schliefen sie miteinander, mit Kondom und einvernehmlich – vorerst.
In der Version des Mannes heisst es, dass sie ihm dann das Kondom ausgezogen habe, um ihn oral zu befriedigen. Danach habe sie ihm «fuck me» gesagt, was er als Aufforderung wahrgenommen habe, wieder in sie einzudringen. Dass sie das nicht gewollt habe, wusste er nicht. Als sie protestierte, habe er sofort aufgehört und beteuert, dass es ihm leid tue.
Anders lautet die Darstellung der Frau. Sie habe ihm schon vorher klargemacht, dass sie auf ein Gummi bestehe. Ihm das Kondom abgestreift habe sie sicher nicht. Er sei dann von hinten in sie eingedrungen, darum habe sie nicht gesehen, dass er kein Kondom mehr trug. Als sie merkte, dass es sich anders anfühlte, habe sie ihn aufgefordert, den Sex sofort zu beenden.
Danach habe sie eine dreimonatige HIV-Prophylaxe machen müssen und in dieser Zeit in Angst und Unsicherheit gelebt, heisst es vonseiten der Frau. Sie zeigte den Mann an, worauf die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Schändung gegen ihn einleitete.
Im Februar dieses Jahres wurde der Fall am Bezirksgericht Bülach verhandelt. Der Staatsanwalt forderte eine unbedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten. Der Anwalt des Mannes plädierte auf Freispruch.
Nachdem das Gericht beide Seiten angehört hatte, sprach es den Mann frei – «leider», wie der Gerichtsvorsitzende bei der Urteilsverkündung betonte. Denn an der Version der Frau gebe es keine Zweifel. Der Mann hingegen sei den wesentlichen Fragen ausgewichen und habe «herumgeschwurbelt».
Aber man dürfe jemand nur für eine Tat bestrafen, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stelle. Und unter «Schändung» falle die Tat des 19-Jährigen nicht. Der Sex sei kein Missbrauch gewesen.
Schon im Gerichtssaal im Februar war klar, dass der Staatsanwalt den Freispruch nicht akzeptieren und den Fall an die nächste Instanz weiterziehen wird. Der Bezirksrichter selbst sagte, es sei erwünscht, dass das Urteil weitergezogen werde. Denn es handle sich hier eindeutig um eine Gesetzeslücke, bei der das Bundesgericht mit entsprechenden Urteilen Rechtssicherheit schaffen müsse.
Dass es immer wieder zu Stealthing kommt, ist unbestritten. Wie oft, ist allerdings unklar. Studien oder Untersuchungen zu dieser Art von Missbrauch gibt es in der Schweiz bisher keine. In einer watson-Umfrage, bei der sich 4800 Userinnen und User beteiligten, antworteten zehn Prozent, schon einmal Opfer von ungewolltem Sex ohne Kondom geworden zu sein. Fünf Prozent gaben an, schon einmal das Kondom weggelassen zu haben, ohne dass es die Partnerin oder der Partner gewusst habe.
Im Januar 2017 wurde zum ersten Mal in der Schweiz ein Stealthing-Fall am Gericht verhandelt. Das Strafgericht Lausanne verurteilte einen damals 47-jährigen Mann wegen Vergewaltigung, weil er ohne das Wissen der Frau während dem Sex das Kondom abgezogen hatte. Er akzeptierte das Urteil nicht und zog es an das Waadtländer Kantonsgericht weiter. Dieses bestätigte zwar das Strafmass gegen den Mann, qualifizierte das Delikt aber nicht mehr als Vergewaltigung, sondern als Schändung.
Ein weiteres Gerichtsurteil zur Thematik fällte das Baselbieter Strafgericht im Januar dieses Jahres. Ein 35-jähriger Mann hat beim Sex mit einer Escort-Dame in seiner Wohnung das Kondom heimlich entfernt – obwohl völlig klar war, dass die Dienstleistung nur mit Gummi erbracht wird. Der Angeklagte bestätigte vor Gericht, dass die Frau laut geflucht habe, als sie bemerkt habe, dass er ohne Kondom in sie eingedrungen sei. Dennoch gab es für den Mann einen Freispruch, weil die Tat laut Gerichtspräsident nicht den Kriterien einer Schändung entspreche.
Für die Schweizer Gerichte lautet die zentrale Frage wie folgt: Ist es eine Straftat, wenn beim einvernehmlichen Sex eine wesentliche Bedingung nicht eingehalten wird? Die Strafrechtlerin Nora Scheidegger schreibt in einem Kommentar über Stealthing: «Beim Stealthing wird das Opfer nicht gegen den Willen zum Geschlechtsverkehr bestimmt, vielmehr will der Täter durch das listige Vorgehen den potentiell entgegenstehenden Opferwillen umgehen [...] Stealthing ist also anders gelagert als die typischen Fälle von ‹Widerstandunfähigkeit› und eher im Bereich der List und Täuschung zu verorten – ein sexualstrafrechtlich nicht geregelter Bereich.»
Während das Kantonsgericht Waadt zum Schluss kam, dass man bei Stealthing von Schändung spricht, urteilten das Baselbieter Strafgericht und das Bezirksgericht Bülach anders. Nun ist es in der Hand des Zürcher Obergerichts, einen weiteren Entscheid in dieser Thematik zu fällen.
Das heimliche Absetzten der Pille sollte dabei genau gleich bestraft werden.
Damit ist eigentlich alles gesagt: Den Straftatbestand des Stealthing gibt es im Schweizer StGB nicht. Damit muss der Täter zähneknirschend freigesprochen werden. Was jetzt aber möglichst rasch folgen muss, ist eine Überarbeitung des Strafrechts, um diese Gesetzteslücke zu schliessen.
Manchmal bietet Rechtsstaatlichkeit eben auch Nachteile. Zum Glück nur sehr selten.
Alternativ ist man schlicht ein Arschloch der seine Krankheiten teilen will. Irgendwie einfach eine lose/lose Situation 🤷♂️