Ein überaus bewegtes Schweizer Politikjahr geht zu Ende. Am nächsten Mittwoch findet die letzte Bundesratssitzung 2014 statt. Grosse Würfe sind kaum noch zu erwarten. Zeit deshalb für einige persönlich gefärbte Gedanken zu nationalen, regionalen und lokalen Ereignissen. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und schon gar nicht auf Objektivität.
Volksabstimmungen sorgen in der Schweiz häufig für Aufregung, danach aber geht wieder alles seinen gewohnten Gang. In seltenen Fällen wird das Land in seinen Grundfesten erschüttert. Das war am 6. Dezember 1992 der Fall, als die Stimmberechtigen den Beitritt zum EWR ablehnten. Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP am 9. Februar 2014 sorgte erneut für eine Art Ausnahmezustand. Die (links-) liberalen Eliten aus Politik und Wirtschaft gaben mit ihrer teilweise hysterischen Reaktion auf den Entscheid ein befremdliches Bild ab.
Das wuchtige Nein zur Ecopop-Initiative am 30. November wurde entsprechend triumphal gefeiert. Doch Euphorie ist Fehl am Platz: Ecopop war die falsche Initiative zum falschen Zeitpunkt. Der Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung über die starke Zuwanderung der letzten Jahre ist nicht über Nacht verschwunden. Wenn der Schweizer Mittelstand weiterhin das Gefühl hat, er komme gegenüber den ausländischen Zuwanderern zu kurz, ist der nächste Hammer an der Urne programmiert.
Der Entscheid vom 9. Februar stellt die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union in Frage. Sie macht bislang keine Anstalten, über eine Anpassung der Personenfreizügigkeit verhandeln zu wollen. Die Hektik in der Schweiz ist gross, denn 22 Jahre nach dem EWR-Nein ist der Bilateralismus zum Dogma geworden. Kaum jemand mag über Alternativen nachdenken. Erstaunt es da, dass der EU-Beitritt extrem unpopulär geworden ist?
Dabei entscheidet sich die Zukunft des bilateralen Wegs kaum an der Frage der Zuwanderung. In Brüssel geht die Geduld mit dem renitenten Kleinstaat zur Neige, der am vereinigten Europa teilnehmen, aber nicht Mitglied werden will. Die EU drängt auf einen Rahmenvertrag, in dem die Schweiz Änderungen des EU-Rechts automatisch übernehmen soll. Werden wir damit zu einem Mitglied ohne Stimmrecht? Führt der bilaterale Weg in die Sackgasse? Wichtige Fragen, mit denen sich die auf den Bilateralismus fixierte Schweiz auseinandersetzen muss.
Die VOX-Analyse zum 9. Februar brachte einen erstaunlichen Befund: Nur 17 Prozent der jungen Wählerinnen und Wähler hatten an der schicksalhaften Abstimmung teilgenommen. Viele Medien berichteten über den vermeintlich politikfaulen Schweizer Nachwuchs. Bei genauer Betrachtung zeigte sich: Die VOX-Zahlen waren Unsinn, eine Folge von Claude Longchamps veralteten Befragungsmethoden, die aus den Zeiten des Wählscheiben-Telefons stammen.
Wir wollen die Schweiz von unserer Zuversicht überzeugen. Zusammen mit dir! http://t.co/KdUQjS3UKF #DieSchweizBewegen pic.twitter.com/dmSkJVM9Y4
— Operation Libero (@operationlibero) September 21, 2014
Eine gewisse Passivität aber liess sich nicht leugnen. Das hat sich geändert: Das Ja zur Zuwanderungsinitiative und das zunehmend radikale Auftreten der SVP in Bereichen wie dem Völkerrecht haben zu einem Ruck in der Zivilgesellschaft geführt. Neue Vereinigungen wie Operation Libero und Dialog EMRK sind entstanden, um den Abschottern Paroli zu bieten. Eine gute Entwicklung: Die Stärke der SVP beruhte auch auf der Schwäche ihrer Gegner.
Exemplarisch für diese Nicht-Haltung steht der Entscheid des Nationalrats zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative der SVP. Aus lauter Angst vor der bereits eingereichten Durchsetzungsinitiative beschloss die grosse Kammer, sie wortgetreu anzuwenden, ohne Rücksicht auf Härtefälle oder Bagetelldelikte. Damit sollen sich die Gerichte herumschlagen. Der Beschluss vom 20. März ist ein Tiefpunkt in der Geschichte des Schweizer Parlamentarismus.
Der Ständerat wandte sich diese Woche gegen die «Angst vor der Angstmacherei einer Partei», wie die kämpferische Aargauer Freisinnige Christine Egerszegi ausführte. Er baute eine Härtefallklausel in die Umsetzungsvorlage ein und nahm das Geschrei der SVP bewusst in Kauf. Die Chancen stehen gut, dass der Nationalrat im zweiten Anlauf zur Besinnung kommen wird. Denn auch hier gilt: Wer vor der SVP kapituliert, macht sie nur noch stärker.
Der Zeitgeist in der Schweiz steht auf Abschottung und Rückzug ins Schneckenhaus. Ein ideales Umfeld für Armeevorlagen, möchte man meinen. Umso grösser die Überraschung, als das Stimmvolk die Beschaffung des Kampfjets Gripen am 18. Mai mit 53,4 Prozent Nein ablehnte. Nicht nur die Linke, auch viele Bürgerliche wollten vom Schweden-Flieger nichts wissen.
Armeeminister Ueli Maurer führte eine miserable Kampagne und war dadurch mitschuldig an der Niederlage. Entscheidend aber war ein anderer Punkt: Die Beschaffung neuer Kampfjets wurde nicht als zwingende Voraussetzung für die Erhaltung einer starken Armee betrachtet, heisst es in der VOX-Analyse. Einst wurde der Armee kritiklos jeder Wunsch von den Augen abgelesen. Heute muss sie gute Argumente vorbringen – eine Entwicklung, die man begrüssen muss.
Oft und laut wurde in den letzten Jahren über die Reformunfähigkeit in der Schweizer Politik geklagt. Gewichtige Vorlagen scheiterten im Parlament, häufig an einer «unheiligen Allianz» von SP und SVP, oder sie wurden an der Urne versenkt. Ein wahrer Lichtblick war die Monsterdebatte im Nationalrat zur Energiewende. Das gewaltige Reformwerk konnte dank einer «Koalition der Vernunft» aus Rotgrün und Mitteparteien weitgehend unbeschädigt ins Ziel gebracht werden. Die Chancen stehen gut, dass der Ständerat sich dieser Linie anschliessen wird.
Optimisten wittern bereits Morgenluft für ein anderes Grossprojekt, die Rentenreform von Bundesrat Alain Berset. Doch die Hürden sind um einiges höher, es geht um persönliche Besitzstände. Gewichtige Teile der Linken werden heftigen Widerstand leisten gegen «Rentenklau» und das höhere Rentenalter für Frauen. Die Wahlen im nächsten Oktober dürften ebenfalls einen Einfluss haben. Trotzdem darf man nach der Energiedebatte hoffen. Die in der Sonntagspresse erklungenen Abgesänge auf Bersets Reformvorhaben sind in jedem Fall verfrüht.
Der Bundespräsident reist nicht ins Ausland, lautete einst ein ungeschriebenes Gesetz. Didier Burkhalter hat es dieses Jahr ad absurdum geführt, mehr als 30 Mal war er ausserhalb der Landesgrenzen unterwegs. Grund dafür war nicht zuletzt die Präsidentschaft der Schweiz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die vermeintliche Routineaufgabe entwickelte sich durch den Ukraine-Konflikt zur Feuerwehrübung.
Viel hat die Schweiz nicht erreicht, trotzdem erhielt Burkhalter am OSZE-Gipfel in Basel ein gutes Zeugnis ausgestellt. Abstruse Spekulationen handeln ihn bereits als nächsten UNO-Generalsekretär. Dabei muss der Neuenburger Freisinnige erst einmal beweisen, dass er seinen Job auch an der Heimatfront beherrscht. Bringt er die Verhandlungen mit der EU über den Rahmenvertrag erfolgreich zum Abschluss, kann er das Ergebnis dem Volk verkaufen? Zweifel sind vorhanden.
Erst war der Fall Carlos. Dann folgten weitere wie jener einer eritreischen Flüchtlingsfamilie, welche die Zürcher Gemeinde Hagenbuch in den Ruin treiben soll. «Sozial-Irrsinn» wurde zu einem Kampfbegriff. Bürgerliche Kreise nahmen die vermeintlich zu hohen Sozialausgaben und die überbordende «Sozial-Industrie» ins Visier. Die SVP will mit dem Thema in den Wahlkampf 2015 ziehen. Besonders stark unter Beschuss geriet die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) mit ihren angeblich zu hohen Vorgaben.
Das Geld wird in den Gemeinden knapper, immer mehr Menschen bleiben immer länger in der Sozialhilfe hängen, auch aufgrund von Sparmassnahmen bei anderen Sozialwerken wie der IV. Auch lässt sich nicht abstreiten, dass mit der angestrebten Professionalisierung des Sozialwesens eine lukrative Branche entstanden ist. Man tut gut daran, ihr auf die Finger zu schauen. Nur eines sollte man nicht vergessen: Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sie nicht nur den Starken huldigt, sondern auch die Schwachen nicht im Stich lässt.
Im Sommer bin ich quer durch die Schweiz gewandert, vom Bodensee zum Genfersee. Bereits am ersten Tag kam ich in Rehetobel in Appenzell Ausserrhoden vorbei. Am 30. November machte die Gemeinde national Schlagzeilen: Sie führte mit 59 Prozent Ja das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene ein, wie zuvor drei weitere Ausserrhoder Gemeinden.
Da fragt man sich, warum das, was in einem Appenzeller Dorf möglich ist, im Kanton #zh nicht möglich sein soll... http://t.co/YVC0QQE6FC
— Stefan Feldmann (@feldmann_uster) 1. Dezember 2014
Abstimmungen dieser Art enden in der Schweiz meist mit einem deftigen Nein, auch in weniger konservativen Gegenden wie dem Appenzellerland. Die Ausserrhoder seien schon immer weltoffener gewesen als andere, kontern Einwohner des Halbkantons. Mag sein, dabei geht es eigentlich um eine Selbstverständlichkeit: Ausländer müssen Entscheide mittragen und als Steuerzahler mitfinanzieren. Also sollten sie auch mitbestimmen dürfen.
Als Wahl-Badener habe ich meine Meinung zur unsäglichen Posse, die unter dem unsäglichen Namen Gerigate hohe Wellen schlug, bereits zum Ausdruck gebracht. Der grüne Stadtammann Geri Müller hat sich mit einer Frau eingelassen und dabei ein schlechtes Urteilsvermögen bewiesen. Aber er hat nichts Illegales getan, für einen Rücktritt gibt es keinen Grund.
Trotzdem hört die Kampagne gegen ihn im einst so offenen Baden nicht auf. In Bundesbern dagegen gibt es kaum Kritik an Noch-Nationalrat Müller. Es gebe eine eigentliche Solidarisierung mit ihm, meint ein Kenner der Szene. Aus einem einfachen Grund: Andere Parlamentarier haben ganz andere Leichen im Keller. Was man da zu hören bekommt, macht doppelt und dreifach wütend auf die Scheinheiligkeit in Baden. Man hofft, dass Geri Müller ihr standhalten kann.