An Krisen herrscht kein Mangel in diesem Jahr. Globale Herausforderungen wie die Klimakrise oder die nicht enden wollende Coronapandemie beherrschen die Schlagzeilen. Aber auch Fragen wie die Beziehung zur EU, die Zukunft der Altersvorsorge, die Finanzierung des Gesundheitssystems oder die Zuwanderung beschäftigen die Einwohner dieses Landes.
Gleichwohl schauen die Schweizerinnen und Schweizer durchaus mit Optimismus in die Zukunft, wie das Chancenbarometer 2021 zeigt, dessen Ergebnisse morgen präsentiert werden. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Anteil der Einwohner, die mit den gegenwärtigen Herausforderungen grosse Chancen verbinden, sogar leicht angestiegen – um fast zwei Prozent. Dieses positive Ergebnis bestärkt die Initiatoren des Chancenbarometers in ihrer optimistischen Haltung und gibt ihnen Anlass, am 29. September zum ersten Mal einen «Chancentag» zu feiern.
Die repräsentative Umfrage (siehe Infobox unten), die letztes Jahr zum ersten Mal durchgeführt wurde, fühlt den Einwohnern der Schweiz auf den Puls und zeigt, welche positiven Veränderungen sie mit den Herausforderungen assoziieren. Der Schwerpunkt liegt dieses Jahr beim Thema «Vielfalt»: Die Initiatoren des Chancenbarometers zeigen auf, wie Diversität als Triebkraft für gesellschaftlichen Zusammenhalt genutzt werden kann und wie der Umgang mit ihr dabei entscheidend ist. Dies sind die fünf wichtigsten Befunde:
Als grösste Herausforderung nimmt die Schweizer Bevölkerung die Finanzierung des Gesundheitswesens wahr, noch vor der Klimaerwärmung oder der Zukunft der Altersvorsorge. In allen diesen drei Bereichen sieht sie jedoch auch grosse Chancen für einen Wandel – am deutlichsten bei der Klimaerwärmung. Hier ist es mittlerweile ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer, die sehr grosse Chancen sehen. Der Anteil derjenigen, die gar keine Chancen damit verbinden können, sank dagegen auf lediglich 7,4 Prozent.
Grosse Chancen verbindet die Bevölkerung insbesondere auch mit der Digitalisierung – hier ist die Sicht auf die Chancen sogar ausgeprägter als die Wahrnehmung als Herausforderung.
Bemerkenswert: In nahezu sämtlichen Bereichen hat die Zuversicht der Bevölkerung im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Am stärksten hat sich die Wahrnehmung von Chancen bei der Finanzierung des Gesundheitssystems und der Zukunft der Altersvorsorge verstärkt, wie diese Grafik zeigt:
Selbst bei den Beziehungen der Schweiz zur EU ist ein bescheidener Zuwachs des Optimismus festzustellen. Und trotz – oder wegen – des gescheiterten Rahmenabkommens ist die Zahl derjenigen, die diesen Bereich als Herausforderung betrachten, noch weniger stark angestiegen.
Die Wahrnehmung eines Bereichs als Herausforderung hat gegenüber 2020 am stärksten bei der Zuwanderung zugenommen; abgenommen hat sie hingegen beim Thema Pandemien/Bevölkerungsschutz und mehr noch bei der Klimaerwärmung. Während aber die Wahrnehmung von Chancen bei Pandemien zurückging – es ist der einzige Bereich, in dem ein Rückgang zu verzeichnen ist –, stieg sie bei der Klimaerwärmung deutlich an.
Die Schweiz ist es gewohnt, in diversen Rankings zur Innovationsfähigkeit Spitzenplätze zu belegen. Kein Wunder: Innovation gilt als entscheidend für den Wohlstand unseres Landes. Die Stärken der Schweiz liegen in attraktiven Forschungseinrichtungen, einem ausgezeichneten Bildungssystem und der starken internationalen Vernetzung. Hinzu kommt ein ausgeprägter Unternehmergeist. Besonders im Wissens- und Technologiebereich schneidet die Schweiz gut ab; bei den Patentanmeldungen weltweit gehört sie zur Spitze.
Allerdings ist diese Spitzenposition gefährdet. Gemäss dem European Innovation Scoreboard (EIS), der Innovationsrangliste der EU, hat ihre Innovationsleistung in den letzten Jahren im Vergleich zur EU leicht abgenommen. Um ihre Innovationskraft zu erhalten, Chancen zu ergreifen und Ideen umzusetzen, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein. Das Chancenbarometer zeigt, inwiefern die Schweizerinnen und Schweizer diese als erfüllt betrachten:
Die Voraussetzung der politischen Stabilität ist nach Ansicht eines guten Drittels der Schweizer Bevölkerung voll und ganz erfüllt. Dies ist eine solide Grundlage, um Herausforderungen anzugehen. Bemängelt wird hingegen die fehlende konstruktive Kommunikationskultur – nur gerade sechs Prozent sehen diese Voraussetzung als gänzlich erfüllt an. Defizite sehen die Befragten auch bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die lediglich neun Prozent als gegeben betrachten. Besonders in diesen beiden Bereichen wären positive Veränderungen wichtig, damit die Schweiz ihre herausragende Stellung halten kann.
Vom Graben zwischen Stadt und Land ist in letzter Zeit häufig die Rede – nicht zuletzt auch, weil er politisch bewirtschaftet wird. In der Tat gibt es Unterschiede, die sich nicht selten im Abstimmungsverhalten widerspiegeln – etwa bei den Agrarinitiativen im vergangenen Juni. Das Chancenbarometer zeigt nun, dass es diesen Graben im Hinblick auf die Wahrnehmung von Chancen kaum gibt. Erfreulich ist zudem, dass der Anteil derjenigen, die einen sehr hohen Handlungsbedarf wahrnehmen, zugleich aber kaum Chancen sehen, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land gering ist. Das heisst, dass auch das Frustpotenzial, das aus dieser Konstellation erwächst, eher gering ist:
Die Zuversicht ist insgesamt hoch, sei es in der Stadt oder auf dem Land: Mehr als 70 Prozent sehen in den Herausforderungen grosse bis sehr grosse Chancen, wobei der Optimismus der Landbevölkerung nur um einen Prozentpunkt geringer ist.
Die Initiatoren des Chancenbarometers sehen darin eine Brücke, die die Bevölkerung befähigt, die Zukunft unseres Landes trotz zunehmender kultureller und sozialer Diversität gemeinsam zu gestalten. Voraussetzung dafür ist, die Chancen aufzuspüren und sie wertschätzend zu diskutieren. Wichtig ist aber auch die Einsicht, dass nicht überall in der Schweiz dieselben Lösungen machbar und sinnvoll sind.
Obwohl die Schweiz ein kleines Land ist, kennt sie eine grosse Vielfalt – sprachlich, religiös, sozial und in zahlreichen weiteren Bereichen. Dennoch ist die kollektive Identität der Bevölkerung ausgeprägt und ein grosser Teil fühlt sich stark mit der Schweiz verbunden. Dies zeigt sich daran, dass 81 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer den politischen Institutionen ihres Landes Vertrauen entgegenbringen. Gegenüber ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern sind es 72 Prozent. Zudem engagieren sich 56 Prozent politisch oder zivilgesellschaftlich für das Gemeinwohl.
Die Initiatoren des Chancenbarometers betonen, dass dieser gesellschaftliche Zusammenhalt den «Kitt» bildet, der Individuen zu einer Gemeinschaft werden lässt. Mehr noch: Gelingt es einer Gesellschaft, die Diversität ihrer Mitglieder produktiv zu nutzen, ist sie widerstandsfähiger und besser imstande, Krisenzeiten zu meistern.
So vielfältig die Schweiz ist – in den politischen Institutionen findet sich diese Diversität nicht im selben Mass. Dies liegt am Wahlverhalten der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger: Sie bevorzugen generell Kandidierende, die ihnen in soziodemografischer Hinsicht gleichen.
Insgesamt ist es für Frauen nach wie vor schwieriger als für Männer, eine Wahl zu gewinnen: Sind alle anderen Eigenschaften wie Sprache, Religion oder sexuelle Orientierung gleich, verringert die Eigenschaft «weiblich» die Wahlchancen um drei Prozent. Spricht ein Kandidat etwa Albanisch, sind seine Wahlchancen um 16 Prozent verringert, und für Muslime sinken sie um 13 Prozent. Beim Alter werden eher jüngere Kandidierende bevorzugt, während die sexuelle Orientierung nicht signifikant ins Gewicht fällt.
Keinesfalls zu unterschätzen ist indes der Einfluss der Parteien auf die Wahlchancen: Es ist entscheidend, wen sie ins Rennen schicken, denn unabhängig von der konkreten politischen Ausrichtung der Kandidierenden steigen ihre Wahlchancen am stärksten, wenn die Befragten ihrer Partei nahestehen. Dies zeigt sich in der untenstehenden Grafik:
Die politische Polarisierung tritt hier deutlich zutage: Befragte, die mit der SP oder den Grünen sympathisieren, sind kaum bereit, einen Kandidierenden der SVP zu wählen. Umgekehrt gilt dies in leicht vermindertem Ausmass auch für jene Befragte, die der SVP nahestehen: Bei ihnen haben Kandidierende der SP oder der Grünen schlechte Karten. In der Mitte des politischen Spektrums sind die entsprechenden Werte etwas kleiner; so haben etwa Kandidierende der FDP bei Sympathisanten der Mitte eine lediglich um rund 15 Prozent geringere Wahlchance.
Parteien bieten Orientierung, indem sie den Stimmberechtigten konkrete Wahlvorschläge unterbreiten. Die Initiatoren des Chancenbarometers sehen die Parteien mithin in der Pflicht, auch ungewöhnlichen Kandidierenden zum Sprung ins Parlament zu helfen, damit die facettenreiche Schweizer Gesellschaft sich in den politischen Institutionen besser widerspiegelt. Denn eine zukunftssichere Demokratie schöpft, wie es im Chancenbarometer 2021 heisst, ihre Kraft aus der Anerkennung von Vielfalt. Die Initiatoren appellieren daher an die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger, den grundlegenden Wandel der Rahmenbedingungen anzuerkennen und mit Optimismus und Mut zu gestalten.