Der steile Anstieg der Covid-19-Infektionszahlen im Oktober ist auch ein Stresstest für die politischen Institutionen in der Schweiz. Die zunächst zögerliche Reaktion des Bundesrates auf diese Herausforderung hat ihm harsche Kritik von verschiedener Seite eingebracht. Gleichwohl wäre es verfehlt, von einer veritablen Vertrauenskrise zu sprechen. Dies geht zumindest aus dem Fazit des ersten Schweizer Chancenbarometers hervor, dessen Ergebnisse heute präsentiert werden: Es attestiert den Schweizerinnen und Schweizern ein nach wie vor hohes Vertrauen in die politischen Institutionen ihres Landes.
Die repräsentative Umfrage (siehe Infobox unten) zeigt, wie die Einwohner der Schweiz die Demokratie wahrnehmen – was sie von ihr erwarten, was sie schätzen und vermissen. Sie zeigt, wie gross das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Schweizer Politik ist und wie sie ihre Kompetenz einschätzen, politische Fragen zu beurteilen. Und sie zeigt, in welchem Mass die Bevölkerung in Herausforderungen – etwa der Klimaerwärmung, der Zuwanderung, der Finanzierung des Gesundheitssystems oder der Zukunft der Altersvorsorge – Chancen für einen Wandel sieht.
Dieser «optimistische Kern der Schweizer Demokratie» tritt in den Ergebnissen des Chancenbarometers 2020 zutage. Hier sind seine wichtigsten fünf Befunde:
Schweizerinnen und Schweizer sind in der Mehrheit politisch aktiv. So haben sich in den letzten fünf Jahren 67 Prozent der Befragten in einer Partei oder Gruppierung engagiert. Ihrer Meinung öffentlich durch ein Abzeichen, eine Fahne oder Ähnliches gaben 68 Prozent Ausdruck, online taten dies 65 Prozent. 60 Prozent nahmen an einer Demonstration teil. Während rund 20 Prozent auch neuartige Formen des politischen Engagements ausprobieren möchten, kommt für weitere 20 Prozent politisches Engagement überhaupt nicht in Frage. Grundsätzlich – so das Fazit – gilt: Je mehr Herausforderungen Menschen mit Chancen verbinden, desto mehr bringen sie sich politisch ein.
Im April verlieh die Corona-Pandemie dem Vertrauen in den Bundesrat einen deutlichen Schub. Danach ging es um beinahe 10 Prozent zurück, während jedoch zugleich der Anteil jener, die überhaupt kein Vertrauen in den Bundesrat haben, konstant niedrig blieb. Weniger Vertrauen geniessen indes die politischen Parteien: Rund die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer hat kein oder nur geringes Vertrauen in die Parteien. Dies ist allerdings im Vergleich mit anderen europäischen Ländern nach wie vor überdurchschnittlich hoch. Fazit: Von einer Vertrauenskrise kann keine Rede sein.
Mit dem Vertrauen korreliert die Zufriedenheit: Rund drei Viertel der Schweizer Bürgerinnen und Bürger sind zufrieden damit, wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert. 10 Prozent sind sogar äusserst zufrieden, während lediglich 5 Prozent sich als äusserst unzufrieden bezeichnen. Dieser Befund gilt mit vernachlässigbaren Unterschieden für alle staatlichen Ebenen, also von der Gemeinde über den Kanton bis zum Bund. Auch hier belegt die Schweiz im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz: Laut Eurobarometer waren letztes Jahr fast 60 Prozent der Westeuropäer unzufrieden mit der Demokratie in ihrem Land.
Im Ranking der Herausforderungen belegt die Klimaerwärmung hinter der Finanzierung des Gesundheitssystems den zweiten Platz, gleichauf mit der Zukunft der Altersvorsorge. Mit beinahe 60 Prozent ist der Anteil der Befragten, die die Klimafrage als äusserst grosse Herausforderung einschätzen, bei den unter 35-Jährigen besonders gross. Wenn es hingegen darum geht, Chancen in der Klimaerwärmung zu sehen, sind Grosseltern (76 Prozent) und Enkel (73 Prozent) fast gleichauf, wobei der Anteil jener, die sogar sehr grosse Chancen sehen, bei den Jungen grösser ist.
Generell sind jedoch die Senioren optimistischer als die jüngeren Altersgruppen: Nicht nur bei der Klimaerwärmung, sondern in sämtlichen Bereichen sind mehr über 65-Jährige als unter 35-Jährige bereit, Chancen zu sehen. Lediglich bei der Digitalisierung und der Klimaerwärmung gibt es mehr Junge, die der Meinung sind, hier gebe es sehr grosse Chancen.
Die Einwohner der städtischen Schweiz sind ein wenig optimistischer als jene auf dem Land, doch der Unterschied ist – ausser bei kontroversen Themen wie der Zuwanderung und den Beziehungen zur EU – eher gering. Dort und bei der Digitalisierung sind es jedoch um die 10 Prozent mehr Stadtbewohner, die grosse Chancen in der jeweiligen Herausforderung sehen. Ansonsten differieren Stadt und Land nur um etwa 1 Prozent. Einzig bei der Frage, wie das Gesundheitssystem finanziert werden soll, sind die Landbewohner ein wenig optimistischer als die Grossstädter. Insgesamt sehen die Einwohner der kleinen und mittelgrossen Städte am meisten Chancen.
Schweizerinnen und Schweizer sind demokratische Partizipation gewohnt. Aber sie schätzen ihre eigene politische Kompetenz sehr unterschiedlich ein: Nur etwas mehr als die Hälfte betrachtet sich als kompetent genug, um komplexe politische Fragen zu verstehen. Dabei gibt es kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen; Frauen schätzen sich nicht signifikant als weniger kompetent oder informiert ein als Männer. Dagegen sind sie aber viel weniger als Männer davon überzeugt, dass ihre Stimme tatsächlich gehört wird.
Nieder mit dem Kulturpessimismus.
Ein Hoch auf den kreativ-schöpferischen Geist des Menschen, der unaufhaltsam Herausforderungen als Chancen sieht und das Leben so viel lebenswerter gemacht hat - sowohl betrachtet auf die letzten Jahrhunderte wie die letzten Jahrzehnte.