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Gesellschaft & Politik

Fast jedes Mitglied des Schweizer Parlaments erlebt Hass und Drohungen

Martin Neukom, rechts, (Gruene) und Natalie Rickli, links, (SVP) nach ihrer Wahl in den Zuercher Regierungsreat in Zuerich am Sonntag, 24. Maerz 2019. (KEYSTONE/Walter Bieri)
Natalie Rickli (links, SVP) und Martin Neukom (rechts, Grüne): Mitglieder ihrer Parteien werden besonders oft angefeindet.Bild: KEYSTONE

Fast jedes Mitglied des Schweizer Parlaments erlebt Hass und Drohungen

21.10.2025, 10:0021.10.2025, 10:32

Fast alle Schweizer Bundesparlamentarierinnen und -parlamentarier haben in den letzten zwei Jahren Anfeindungen im Zusammenhang mit ihrem politischen Mandat erlebt. Am stärksten betroffen waren Mitglieder der SVP und der Grünen.

Zu diesem Ergebnis kam eine Umfrage unter rund 3500 Parlamentsmitgliedern auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, wie die Universität Zürich (UZH) am Dienstag mitteilte. Die UZH hat die Umfrage im Auftrag des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) durchgeführt.

Unter den befragten Mitgliedern von National- und Ständerat gaben 98 Prozent an, Opfer persönlicher Herabsetzungen, Hassrede, Drohungen, Diffamierung, Stalking, Vandalismus oder Gewalt geworden zu sein. Unter den Kantonsparlamentarierinnen und -parlamentariern waren es drei Viertel (75 Prozent) und auf kommunaler Ebene knapp die Hälfte (45 Prozent).

Auf Bundesebene stammen Anfeindungen gegen Parlamentsmitglieder meist von unbekannten Dritten, die Online-Kanäle nutzen. «Überraschend häufig werden Anfeindungen auch per Briefpost empfangen – insbesondere von national tätigen Befragten», heisst es ausserdem in der Studie, die die UZH zur Umfrage veröffentlichte.

Auf kantonaler und kommunaler Ebene erfolgen sie hingegen überdurchschnittlich oft im persönlichen Kontakt. In Gemeindeparlamenten werden Mitglieder anderer Parteien sogar als häufigste Verursacher solcher Anfeindungen genannt.

Parteilose werden kaum angefeindet

Mitglieder der Polparteien werden dabei häufiger angefeindet als Mitglieder von Zentrumsparteien. So berichteten 70 Prozent der befragten SVP-Mitglieder und 68 Prozent der befragten Grünen-Mitglieder von Anfeindungen.

Bei Mitgliedern der Mitte und der FDP beträgt dieser Anteil 45 Prozent. Die SP (60 Prozent) und die GLP (57 Prozent) liegen dazwischen.

Mit Abstand am wenigsten von Anfeindungen betroffen sind Parteilose. Nur rund ein Viertel (24 Prozent) der Parlamentsmitglieder, die sich keiner etablierten politischen Haltung zuordnen lassen, berichteten von entsprechenden Erfahrungen.

Auch die Art der Anfeindungen unterschied sich. So waren Personen, die politisch rechts positioniert sind, überdurchschnittlich häufig von Drohungen, Gewalt oder Vandalismus betroffen. Links verortete Personen, Frauen und Angehörige von Minderheiten waren hingegen besonders häufig Ziel von Hassrede.

Frauen besonders betroffen

Auf Gemeindeebene waren zudem Frauen, politisch links positionierte Personen sowie Angehörige von religiösen, ethnischen oder sexuellen Minderheiten überdurchschnittlich häufig betroffen. So berichteten in kommunalen Parlamenten 49 Prozent der Frauen, aber nur 42 Prozent der Männer von Anfeindungen.

«Anfeindungen sind mehr als nur ein berufliches Ärgernis – sie können psychische und politische Folgen für die Betroffenen haben», betonten die Forschenden der UZH in der Studie. Allerdings wirken sich demnach Vorfälle nicht auf alle gleich aus und werden auch nicht von allen nur als negativ wahrgenommen.

Vorfälle von Diffamierung führen dabei mit Abstand zu den stärksten Stress- und Belastungswerten. Auch identitätsbezogene Angriffe wie Hassrede und persönliche Herabsetzungen lösen überdurchschnittlich starke Belastungsempfindungen aus.

«Silencing»

Insgesamt berichteten Frauen, Angehörige von Minderheiten sowie Personen mit Diffamierungserfahrungen von den höchsten Stresswerten infolge von Anfeindungen. Im Vergleich zu Männern und Mehrheitsangehörigen meiden sie auch deutlich häufiger öffentliche Auftritte, um Anfeindungen zu entgehen – ein Phänomen, das als «Silencing» bezeichnet wird.

«Das kann die politische Teilhabe und Sichtbarkeit bestimmter Gruppen verringern – mit möglichen Folgen für ihre Repräsentation und die demokratische Teilhabe insgesamt», wurde Studienautorin Sarah Bütikofer in der Mitteilung zitiert. (dab/sda)

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Händlmair
21.10.2025 10:19registriert Oktober 2017
Die Frage ist, warum die Hemmschwelle für Aggressionen und persönliche Angriffe derart gesunken ist und warum Anstand und Respekt gegenüber Politikern und Institutionen so tief liegen. Drohungen gegen Politiker gab es auch früher, aber das waren Einzelfälle. Was heute passiert, ist eine Schande für jede Gesellschaft. Dabei verschärft sich das Problem oft, wenn man auf Drohungen oder Beleidigungen mit Anzeigen oder Polizei reagiert. Und NEIN, Migration ist hier nicht der entscheidende Faktor – vielmehr ist es die zunehmende Spaltung und Polarisierung der Politik die Vermögensungleichheit.
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uicked
21.10.2025 10:26registriert Oktober 2017
Also von der Politik vorangetriebene Probleme fördern das oben erwähnte Problem....vielleicht sollten die Politiker dann wieder Politik und keine Polemik machen. Ihre Gang-Art und Ton-Art anpassen. Wenn die Politik in aller Öffentlichkeit so miteinander umgeht, sieht das jeder und denkt sich das ist der Weg. Man müsste also die Politiker für ihre, zum Teil kindischen Auftritte, zu den für das Problem schuldigen machen und es nicht in der Bevölkerung suchen.
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Die Gesandte Pekings
21.10.2025 10:21registriert März 2024
Ich habe für mich selbst die Regel gemacht, dass ich öffentliche Personen nur anschreibe, wenn ich etwas gutes zu sagen habe.

Vor allem bei Politikern kann ich sie das nächste Mal einfach nicht wählen oder aktiv einen Gegenkandidaten unterstützen.

Und sind wir ehrlich: So schlimm sind unsere Politiker nicht, dass man jetzt wirklich lautstark gegen sie demonstrieren würde. Auch ein Andi Glarner ist irgendwodurch ein Mensch, zwar Geistig kaum älter ein mein jüngster Sohn aber ich wäre auch froh, würden die Leute meinen Sohn in Ruhe lassen, wäre er auf unerklärlicherweise Nationalrat geworden.
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Zwischen Heilung und Zwang: Die Vermessung der Psyche in der Schweiz
Die Seele wurde zwar nicht in der Schweiz erfunden, aber immerhin dort gesucht und gedeutet – und im Krankheitsfall auch dort behandelt. Ein Gang durch die streckenweise sehr düstere Geschichte der Psychologie in unserem Land, die das Zürcher Landesmuseum zum 150. Geburtstag C. G. Jungs beleuchtet.
Es hilft wahrscheinlich nicht, wenn man, kaum aus der Haustür getreten, schon die Birne am nächsten Berg anstösst. Für einen weiten Geist braucht es auch einen weiten Blick, der hat es in unserem von den Alpen zerfalteten Land eher schwierig, ausser natürlich man steht auf dem Gipfel und schaut sich die ganze Sache von oben an. Dort könnte der Einzelne durchaus in der Lage sein, seine seelische Entwicklung voranzutreiben und seine «nationale Präjudiz» zu überwinden.
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