Eine Strafanzeige des Komitees der Service-Citoyen-Initiative vom vergangenen Jahr legt nahe, dass in der Schweiz im grossen Stil Wahlfälschung begangen wurde. Kommerzielle Unterschriftensammler stehen unter dem Verdacht, Tausende Daten für Volksinitiativen gefälscht zu haben. Die Tamedia-Zeitungen haben als erstes darüber berichtet. Gemäss der Recherche sind mehrere Volksbegehren zur Abstimmung gekommen, die mithilfe von gefälschten Unterschriften zustande gekommen sind.
Auch die Bundeskanzlei hat gemäss dem Tamedia-Bericht bereits 2022 Strafanzeige eingereicht und seither neue Verdachtsfälle der Anzeige hinzugefügt. Insgesamt handle es sich um etwa ein Dutzend Volksinitiativen, die unter dem Verdacht stehen, mit teils falschen Unterschriften zustande gekommen zu sein.
Betroffen seien sowohl rechte als auch linke Initiativen. Viele der kommerziellen Sammelorganisationen haben ihren Sitz in der Westschweiz, wie die Tamedia-Zeitungen berichten.
Aufgeflogen ist der Unterschriften-Schwindel, als die Co-Präsidentin der Service-Citoyen-Initiative, Noémie Roten, eine Zusammenarbeit mit dem kommerziellen Unterschriftensammler-Unternehmen Incop startete. Die Organisation mit Sitz in Lausanne hatte sich auf das kommerzielle Beschaffen von Unterschriften spezialisiert, 4.50 Franken soll eine Unterschrift gekostet haben.
Die Firma Incop, die eigentlich als Verein eingetragen ist, ist einer der grössten Player in der gemäss Tamedia-Zeitungen boomenden Branche der Unterschriftensammler. Der Deal, den Roten mit Incop damals schliesst: 10'000 gültige Unterschriften. Weil Roten auf Nummer sicher gehen will, verlangt sie, dass alle Sammlerinnen und Sammler eine Charta unterzeichnen.
Als Incop nicht wie abgemacht abliefert und nur die Hälfte der Unterschriften ohne Beglaubigung übergibt, sind ausserdem viele der Unterschriften ungültig. Roten schaut genauer hin und entdeckt besorgniserregende Muster: nicht existente Adressen, Namen weggezogener Bürgerinnen und Bürger, abgeschrieben wirkende Bögen und sich wiederholende Unterschriften.
Bei eigenen Nachforschungen stellt Service Citoyen gemäss der Recherche fest, dass Gemeinden bereits bei anderen Volksbegehren ähnliche Erfahrungen gemacht haben, insbesondere in der Waadt ist das Problem bekannt. Als Service Citoyen selbst eine Sammlerin mit den Vorwürfen konfrontiert, gebe diese zu, dass ganze Bögen ausgetauscht und kopiert worden seien, heisst es in der «Tamedia»-Recherche.
Service Citoyen reicht am 14. Juni 2023 bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige ein wegen Verdachts auf Wahlfälschung im grossen Stil, wie die Tamedia-Zeitungen berichten. Ein 236-seitiger Bericht dokumentiert die vorgelegten Beweise. Auf die Anfragen der Zeitung hätte Incop nicht reagiert, die Webseite der Firma sei mittlerweile offline.
Der Kanton Waadt habe die ersten Fälle, die auf möglichen Betrug hinwiesen, Anfang 2019 festgestellt, heisst es in der Tamedia-Recherche. Man habe damals umgehend reagiert und die Bundeskanzlei informiert. Als sich die Fälle häuften, habe man sich erneut mit der Bundeskanzlei in Verbindung gesetzt.
Der Kanton Waadt stellte den Tamedia-Redaktionen eine Liste der Volksbegehren zur Verfügung, die am meisten gefälschte Unterschriften aufwiesen. Ein politisches Muster war dabei keines zu entdecken.
Betroffen gewesen sind gemäss Tamedia:
Ob ein Betrug vorliegt, sei nicht immer ohne Weiteres feststellbar. Denn: Die Unterschriften der Stimmberechtigten sind nicht hinterlegt. Stimmen also Namen, Adressen und Geburtsdaten überein, werden die Stimmen als gültig gezählt. In kleineren Gemeinden könnten Unstimmigkeiten eher erkannt werden, in grösseren sei das schwieriger, heisst es im Tamedia-Bericht.
Mehrere Tausend gefälschte Unterschriften habe man allein in der Waadt seit 2019 entdeckt, sagt Vincent Duvoisin von der Waadter Kantonsverwaltung gegenüber Tamedia. Brisanter dürfte aber die Dunkelziffer sein.
Wird über Initiativen abgestimmt, die mithilfe kommerzieller Unterschriftensammlung zustande gekommen sind, könne man sich also nicht sicher sein, wie viele der Unterschriften tatsächlich real seien, so Duvoisin zu den Tamedia-Zeitungen. So habe man in den vergangenen Jahren wohl über mehrere Volksbegehren abgestimmt, die ohne Betrug wohl nicht zustandegekommen wären.
Die Bundeskanzlei widerspricht dieser Darstellung und schreibt an die Tamedia-Zeitungen folgende Stellungnahme:
Vielmehr würden die als ungültig gemeldeten Unterschriften für eine genaue Kontrolltätigkeit der Gemeinden sprechen.
Die Bundesanwaltschaft (BA) bestätigte gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA die laufenden Verfahren: «Die Verfahren laufen zurzeit gegen verschiedene natürliche Personen und gegen Unbekannt.»
Im Rahmen der betreffenden Verfahren hätten die BA und das Bundesamt für Polizei Hausdurchsuchungen und Einvernahmen durchgeführt.
Die Bundesanwaltschaft äusserte sich nicht dazu, um welche Initiativen es sich dabei handelt und gegen wen sich die Verfahren richten.
In ersten Reaktionen auf die Enthüllungen wurde der Ruf laut, das gewerbsmässige Sammeln von Unterschriften zu verbieten.
Die Grünen wollten versuchen, ein solches Verbot so rasch wie möglich zu erreichen, schrieb etwa der Zürcher-Grünen Nationalrat Balthasar Glättli auf der Plattform X (vormals Twitter). «Käufliche Demokratie» müsse Grenzen haben.
5/ Wir @gruenech werden es jedenfalls versuchen, so rasch wie möglich das gewerbsmässige Unterschriftensammeln zu verbieten. #KäuflicheDemokratie muss Grenzen haben.
— Balthasar Glättli🌻 🕊 (@bglaettli) September 2, 2024
Bei den Kosten für Beglaubigung und den Kampagnenkosten ist das Geld schon mehr als genug wichtig...
Die Stiftung für direkte Demokratie sieht Bundesrat und Parlament in der Verantwortung, das kommerzielle Sammeln von Unterschriften «sofort zu unterbinden», wie sie schreibt. Ausgenommen sein müssten Vereine, Verbände und Parteien, deren Mitarbeitende Unterschriften für eigene oder unterstützte Anliegen sammelten.
Die Enthüllungen @Tagesanzeiger über die Fälschung von Unterschriften sind ein Skandalfall! Bundesrat und Parlament stehen jetzt in der Pflicht, mit Sofortmassnahmen die kommerzielle Unterschriftensammlung für Initiativen und Referenden umgehend zu unterbinden. pic.twitter.com/OglivEUFO1
— Stiftung für direkte Demokratie (@demokratie_ch) September 2, 2024
Es gehe «längst nicht mehr um Einzelfälle», kritisiert die Stiftung auf den Medienbericht hin weiter. Es gehe um ein aus den Fugen geratenes System, das die Sicherheitsansprüche nicht mehr erfüllen könne und neu justiert werden müsse.
Die Stiftung für direkte Demokratie gewährleistet den Betrieb der Demokratie-Plattform Wecollect und stellt digitale Werkzeuge für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos zur Verfügung, wie sie auf ihrer Webseite schreibt.
Ein Verbot von bezahltem Unterschriftensammeln ist 2021 im Nationalrat abgelehnt worden. Mit 123 zu 61 Stimmen bei einer Enthaltung sprach sich die grosse Kammer damals gegen eine Motion des früheren SP-Nationalrats Mathias Reynard (VS) aus, die damit vom Tisch war.
Für die Motion waren SP und Grüne. SVP, FDP, Mitte und GLP stimmten dagegen. Auch der Bundesrat sprach sich gegen ein Verbot aus. Ein solches wäre «unverhältnismässig und nicht zielführend», argumentierte der damalige Bundeskanzler Walter Thurnherr.
Aus Einzelfällen könne nicht darauf geschlossen werden, dass beim bezahlten Unterschriftensammeln generell unlautere Methoden angewendet würden. Es liege vielmehr in der Verantwortung der Komitees sicherzustellen, dass für ihr Volksbegehren mit lauteren Methoden gesammelt werde – unabhängig davon, ob sie bezahlte Unterschriftensammlerinnen und -sammler dafür einsetzten oder nicht.
Im vergangenen Jahr genehmigte der Bundesrat ein im Kanton Neuenburg geplantes Verbot des bezahlten Sammelns von Unterschriften für eidgenössische Volksinitiativen und Referenden nicht. Das Verbot des bezahlten Sammelns von Unterschriften für kantonale und kommunale Initiativen und Referenden im Kanton Neuenburg sei vom Entscheid des Bundesrats hingegen nicht betroffen, schrieb er damals.
Der Kanton Neuenburg hatte 2021 das Gesetz über die politischen Rechte geändert und das bezahlte Sammeln von Unterschriften für eidgenössische, kantonale und kommunale Volksinitiativen und Referenden verbieten wollen. Kantonale Ausführungsbestimmungen müssen aber vom Bund genehmigt werden, damit sie gültig sind.
(hah, mit Material der sda)
Was mich überrascht, ist dass die SVP auch Unterschriftensammlungen einkauft.
Die einfachste Lösung für das Problem wäre, dass es verboten wird, dass Organisationen oder Einzelpersonen pro Unterschrift, die sie sammeln, bezahlt werden.