Wer Angehörige pflegt, laufe Gefahr, in die Armut abzurutschen. Das schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einem Bericht aus dem Jahr 2020. Im Jahr 2016 leisteten rund 300'000 Personen unbezahlte Pflegearbeit – in einem Umfang von insgesamt 80 Millionen Stunden, auch das hält das BAG fest.
Andrea* aus Zürich hat einen Sohn mit Behinderung. Miro* leidet an einer unbalancierten Translokation. Dass er diesen Gendefekt hat, haben Andrea und ihr Mann erst herausgefunden, als ihr Sohn acht Monate alt war, denn er entwickelte sich nicht normal.
Nach dem Mutterschutz hatte Andrea noch 80 Prozent gearbeitet. Als klar wurde, dass Miro eine Behinderung hat, musste Andrea ihr Pensum auf 50 Prozent reduzieren, denn je älter ihr Kind wurde, desto mehr Pflege brauchte es. Seitdem Miro die Schule besucht, arbeitet Andrea wieder 60 Prozent.
Miro ist nun sieben Jahre alt, er kann nicht richtig laufen, sprechen oder essen. Seine Eltern geben ihm Flüssignahrung, wechseln seine Windeln und müssen ihn auch oft tragen.
«Man könnte sagen, dass er noch auf dem Entwicklungsstand eines Babys ist. Je älter er wird, desto zeitintensiver wird es, ihn richtig zu pflegen», erklärt Andrea.
Bis Miro im zweiten Kindergarten war, hat Andrea ihn unentgeltlich gepflegt. Der Grund dafür: Andrea wurde bis dahin von niemandem darüber informiert, dass sie Anspruch darauf hat, für die mehrstündige Pflegearbeit, die sie Tag für Tag leistet, entschädigt zu werden.
Vor einem Jahr, also als Miro fast sechs Jahre alt war, hat Andrea von einer Mutter eines Mitschülers von Miro erfahren, dass diese für die Pflege ihres Sohnes bei der Spitex angestellt ist und für die Arbeit bezahlt wird. Eigentlich bezahlt die Spitex erst, wenn das Kind bereits sechs Jahre alt ist, diese Mutter erhielt aber bereits einen Lohn, als ihr Sohn erst fünfeinhalb Jahre alt war. Dieses Beispiel zeigt, dass je nach Einschränkungsgrad Ausnahmen möglich sind.
Doch nicht nur Andrea erfuhr durch Zufall von diesem System, auch die Mutter des anderen Kindes wurde nicht von einer offiziellen Stelle darauf aufmerksam gemacht: «Unsere Kinder werden von einem speziellen Taxi in den Kindergarten und die Heilpädagogische Schule gebracht. Der Fahrer dieses Behindertentransporters hat sie mit einem Flyer darauf hingewiesen, dass sie finanziell unterstützt werden könnte.»
Andrea hat daraufhin eine Spitex ausgesucht und sich anstellen lassen. Nun erhält sie für jede Stunde, die sie ihren Sohn pflegt, 40 Franken brutto, diese Kosten trägt die Krankenkasse ihres Sohnes. Bei einem Tagessatz von jeweils drei Stunden am Tag erhält sie normalerweise einen Nettolohn von rund 3000 Franken.
Während des ersten Jahres, in dem Andrea bezahlt wurde für die Pflegearbeit, musste sie beim Schweizerischen Roten Kreuz einen Pflegehelferkurs besuchen. Hätte sie diesen Kurs nicht besucht, hätte die Krankenkasse die Pflegestunden nicht mehr vergütet.
Die Krankenkasse macht zudem regelmässig Abklärungen bei Andrea zu Hause, so wird jeweils geprüft, ob der Pflegeaufwand weiterhin besteht und in welchem Zeitrahmen. Auch von einer Spitex-Mitarbeiterin wird Andrea mehrmals im Jahr besucht. Diese kontrolliert die Abläufe und hält fest, welche Arbeiten bezahlt werden müssen.
Doch Andrea erhält nicht jeden Monat gleich viel Geld: «Die Krankenkasse bezahlt mich nicht, wenn das Kind im Spital ist. Das ist klar. Aber ich werde auch nicht bezahlt, wenn meine Familie und ich in die Ferien gehen. Die Logik erschliesst sich mir nicht ganz – ich muss mein Kind schliesslich auch in den Ferien pflegen, der Aufwand ist genau gleich.»
Zudem werde sie nur für sechs Tage die Woche bezahlt, weil das Arbeitsgesetz vorgibt, dass jeder und jede Angestellte mindestens einen Tag freihaben muss pro Woche. «Ich arbeite trotzdem sieben Tage die Woche, aber werde nur für sechs bezahlt», sagt Andrea.
Trotzdem: Dass die Spitex Andrea nun regelmässig einen Lohn gibt, hat ihr Leben erleichtert. Zuvor hat ihr Sohn bereits rund 2000 Franken Hilflosenentschädigung pro Monat erhalten. Dieses Geld verwendet Andrea beispielsweise für Miros Spezialessen und Windeln. Erst vor kurzem musste sie ein Pflegebett kaufen, weil er aus dem normalen Bett regelmässig ausbüxte. Kostenpunkt: 6000 bis 8000 Franken. Für solche Investitionen sei es sehr hilfreich, wenn sie Geld aus dem Spitexlohn oder der Hilflosenentschädigung verwenden kann, so Andrea.
Der Spitexlohn gibt ihr Sicherheit und macht auch Lohneinbussen wett: «Ich würde bestimmt mehr arbeiten, wenn mein Sohn keine Behinderung hätte, schliesslich geht er schon zur Schule. Aber das geht nun mal nicht.»
Andreas Freunde und Bekannte freuten sich für sie, als sie erfuhren, dass sie mit 3000 Franken pro Monat entschädigt wird für ihre geleistete Pflegearbeit. Missgünstig war niemand, allen sei bewusst, wie viel Zeit sie für die Pflege ihres Sohns investiert.
Andrea müsste nicht so viel Zeit aufwenden. Sie könnte ihren Sohn theoretisch auch in einem Heim unterbringen. Das stand für sie aber nie zur Debatte, denn sie möchte sich selbst um ihr Kind kümmern. Andrea ist überzeugt, eine Heimunterbringung wäre auch für die Krankenkasse teurer:
Für die Zukunft wünscht Andrea nun, dass die Angehörigen besser informiert werden und die Invalidenversicherung oder die Krankenkassen proaktiver auf die Betroffenen zugehen.
Wie Andrea ergeht es auch anderen Schweizerinnen und Schweizern. Sie erfahren nur zufällig von dem Angebot – oder gar nicht. Die Angehörigenspitex möchte dem entgegenwirken. Deshalb hat sie eine grossangelegte Kampagne gestartet und hat verschiedene Plakate aufgestellt. «Ausser der Angehörigenspitex informiert, nach meinem Kenntnisstand, niemand standardmässig über diese Möglichkeiten», sagt der Leiter Michael Zellweger.
Die Angehörigenspitex und ihre Partnerunternehmen möchten Betroffenen die ihnen zustehende Wertschätzung entgegenbringen, so Zellweger. Er sagt: «Wir wollen sie in ein Pflege- und Therapieteam einbinden, um die Pflegequalität zu erhöhen, und ihnen Unterstützung und Ansprechpersonen zur Seite stellen, die rund um die Uhr für sie erreichbar sind.»
Aber: Wie sinnvoll ist diese Kampagne in Anbetracht der jetzt schon explodierenden Krankenkassenkosten? Die Anstellung pflegender Angehöriger und deren Ausbildung führe dazu, dass durch die Unterstützung von diplomierten Pflegefachkräften die Anzahl unnötiger Arztbesuche, Notfalleinweisungen, Spital- oder Pflegeheimeintritte verhindert oder verringert werden könne, so Zellweger. «Das gesamte Gesundheitssystem wird somit einer geringeren finanziellen Belastung ausgesetzt.»
*Namen von der Redaktion geändert
Wie der eRollstuhl einer Bekannten (20000.-), die Pflegemittel sind massiv überteuert. Da könnte die IV auch mal ansetzen