Herr Alijaj, Sie sind frisch gewählter Nationalrat. Wie fühlt sich das an?
Islam Alijaj: Surreal. Ich kann es nicht komplett glauben, obwohl ich es eigentlich weiss. Wir haben als Team monate-, sogar jahrelang daraufhin gearbeitet. Jetzt ist es eingetreten und das muss ich zuerst noch realisieren.
«Islam du musst rein! Sie wollen ein Foto der Gewinner machen», rufen mehrere Leute. Das Interview wird unterbrochen. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal zeigt sich: Alijaj ist heute ein gefragter Mann – wenn nicht sogar der Gefragteste.
Weshalb haben Sie gewonnen?
Das Stimmvolk hat sich dafür entschieden, dass sie einen authentischen Politiker wählen wollen. Ich sitze im Rollstuhl und habe eine Sprechbehinderung, das sind Attribute, die ein erfolgreicher Politiker eigentlich nicht hat. Trotzdem wurde ich gewählt. Das heisst, dass die Wählerinnen und Wähler sich eine andere, neue Zeit wünschen – in der es auch Politikerinnen und Politiker gibt, die nicht unbedingt der Norm entsprechen. Und: Wir haben eine coole Kampagne gemacht, ohne die wäre es schwierig geworden. (lacht)
Bei unserem letzten Treffen haben Sie mir gesagt, dass Sie in einem «goldenen Käfig» sassen. Sie wurden von Institution zu Institution geschickt. Sind Sie jetzt ausgebrochen?
Definitiv. Jetzt bin ich ausgebrochen, denn ich kann den Käfig so gestalten, wie ich es will. Ich kann das Behindertenwesen nun so umbauen, dass die Geschichte, die ich geschrieben habe, nicht aussergewöhnlich ist, sondern Standard. Damit alle Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung, ihre Lebensentwürfe so gestalten können, wie sie es wollen – um das geht es.
Geschichte geschrieben hat heute auch die SVP. Die Schweiz erlebte einen Rechtsrutsch. Was macht das mit Ihnen?
Das stimmt mich nachdenklich. Es kann nicht sein, dass eine Partei, die gegen Menschen hetzt, so zulegt. Die SVP hat in der Kommunikation auf die Angst gesetzt, so konnte sie Wählerinnen und Wähler gewinnen. Ich habe in meiner Kampagne den Fokus darauf gesetzt, die Menschen mit einfachen Botschaften abzuholen und Hoffnung, das hat auch funktioniert. Das ist der Schlüssel zum Erfolg. Ich glaube fest daran, dass die Linke den Rechtsrutsch in den nächsten Jahren korrigieren kann.
Was packen Sie im Nationalrat als Erstes an?
Zuerst muss ich die Situation mit meiner Assistenz regeln, ich habe Menschen, die mich in meinem Alltag unterstützen. Danach erarbeite ich mir eine Strategie für die nächsten vier Jahre. Mein Ziel ist es mehrheitsfähige Vorschläge einzubringen im Parlament. Denn es gibt viele Beispiele: im Behindertenwesen bei der Invalidenversicherung, aber auch in der Altersvorsorge und in dem Gesundheitswesen mit den explodierenden Kosten. Da muss etwas getan werden.
Können Sie auch etwas Anderes als Identitätspolitik?
Ich habe nie Identitätspolitik gemacht. Inklusion betrifft uns alle. Der Fall von Philipp Kutter, der nach einem Skiunfall im Rollstuhl sitzt, zeigt: Es braucht nur eine Sekunde – jeder kann behindert werden. Ich will das Thema Inklusion in den Mainstream bringen. Meine Politik ist nicht nur für Behinderte.
Sondern?
Ich mache Politik für alle Menschen – für die 99 Prozent der Menschen, die nicht das Leben eines privilegierten, alten, weissen Mannes führen, der sich alles leisten kann. Ich mache klassische, sozialdemokratische Politik – aber halt aus der Sicht einer behinderten Person.
«Sorry, ganz schnell. Kann ich stören? Es tut mir furchtbar leid. Ich will Islam gratulieren. Voll gut. Ich hatte so Freude», sagt ein Mann, der in seinem Rollstuhl angefahren kommt. «Du wirst es gut machen, ich weiss das.» Aljaj bedankt sich herzlich.
Und was sieht eine behinderte Person anders, als eine, die nicht im Rollstuhl sitzt?
Ich muss mir Gedanken machen, wie ich etwas meistere. Meine Assistenz begleitet mich durch meinen Alltag. Ich werde konstant daran erinnert, dass ich eine Behinderung habe. Als ich 16 Jahre alt war, hatte ich in der Sonderschule das Niveau der sechsten Klasse besucht – das war meine damalige Realität. Und bald sitze ich im Nationalrat.
Sie haben vier Jahre Zeit, die Zukunft Ihrer zwei Kinder zu verändern – zu verbessern. Wie machen Sie das?
Sie sollen verstehen, dass alle Menschen ihre eigene Geschichte schreiben können. Ich will, dass sie wissen, dass sie alles schaffen können, was sie wollen – aber nur, wenn die Bedingungen da sind. Diese Bedingungen muss die Politik schaffen und dafür setze ich mich ein.
Auch als Lobbyist für Körperbehinderte ist er dies doch nicht als Beruf, sondern Lobbyist. Einer der wenigen guten und nützlichen. Denn im Gegensatz zu Banken und Verdicherungen sind Menschen mit Behinderung tatsächlich untervertreten im Parlament und brauchen deshalb Lobbyisten.
Hoffe, er kann hier etwas erreichen, auch wenn es ganz schwer wird mit einer erstarkten SVP.
Ich wünsche ihm das Beste.
Ich freue mich sehr über diese Wahl, nicht nur, weil ich selber behindert bin, sondern weil Islam ein heller Kopf ist, der hoffentlich auch gehört wird.