Schweiz
Interview

Islam Alijaj: Ich mache keine Identitätspolitik. Es kann jeden treffen.

Lächelt stolz: der frisch gebackene SP-Nationalrat Islam Alijaj.
Lächelt stolz: der frischgebackene SP-Nationalrat Islam Alijaj.Bild: watson
Interview

SP-Nationalrat Alijaj: «Ich mache keine Identitätspolitik. Jeder kann behindert werden»

Islam Alijaj hat es geschafft: Er wurde am 22. Oktober in den Nationalrat gewählt. 2019 hatte es nicht gereicht, deshalb ist die Freude nun umso grösser. watson hat ihn an der SP-Wahlfeier in Zürich getroffen.
23.10.2023, 09:2323.10.2023, 10:57
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Herr Alijaj, Sie sind frisch gewählter Nationalrat. Wie fühlt sich das an?
Islam Alijaj: Surreal. Ich kann es nicht komplett glauben, obwohl ich es eigentlich weiss. Wir haben als Team monate-, sogar jahrelang daraufhin gearbeitet. Jetzt ist es eingetreten und das muss ich zuerst noch realisieren.

«Islam du musst rein! Sie wollen ein Foto der Gewinner machen», rufen mehrere Leute. Das Interview wird unterbrochen. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal zeigt sich: Alijaj ist heute ein gefragter Mann – wenn nicht sogar der Gefragteste.

Weshalb haben Sie gewonnen?
Das Stimmvolk hat sich dafür entschieden, dass sie einen authentischen Politiker wählen wollen. Ich sitze im Rollstuhl und habe eine Sprechbehinderung, das sind Attribute, die ein erfolgreicher Politiker eigentlich nicht hat. Trotzdem wurde ich gewählt. Das heisst, dass die Wählerinnen und Wähler sich eine andere, neue Zeit wünschen – in der es auch Politikerinnen und Politiker gibt, die nicht unbedingt der Norm entsprechen. Und: Wir haben eine coole Kampagne gemacht, ohne die wäre es schwierig geworden. (lacht)

Über die Person
Islam Alijaj ist 36 Jahre alt, zweifacher Vater und lebt mit seiner Familie in Zürich. Er wurde im Februar 2022 in den Zürcher Gemeinderat gewählt und im Oktober 2023 in den Nationalrat. Alijaj hat eine Cerebralparese. Diese resultierte aus Sauerstoffmangel bei der Geburt. Deshalb sitzt er im Rollstuhl und hat eine Sprechbehinderung. Kognitiv beeinträchtigt ihn die Cerebralparese aber nicht.

Bei unserem letzten Treffen haben Sie mir gesagt, dass Sie in einem «goldenen Käfig» sassen. Sie wurden von Institution zu Institution geschickt. Sind Sie jetzt ausgebrochen?
Definitiv. Jetzt bin ich ausgebrochen, denn ich kann den Käfig so gestalten, wie ich es will. Ich kann das Behindertenwesen nun so umbauen, dass die Geschichte, die ich geschrieben habe, nicht aussergewöhnlich ist, sondern Standard. Damit alle Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung, ihre Lebensentwürfe so gestalten können, wie sie es wollen – um das geht es.

Alijaj und eine Unterstützerin, die sein T-Shirt trägt.
Alijaj und eine Unterstützerin, die sein T-Shirt trägt.Bild: watson

Geschichte geschrieben hat heute auch die SVP. Die Schweiz erlebte einen Rechtsrutsch. Was macht das mit Ihnen?
Das stimmt mich nachdenklich. Es kann nicht sein, dass eine Partei, die gegen Menschen hetzt, so zulegt. Die SVP hat in der Kommunikation auf die Angst gesetzt, so konnte sie Wählerinnen und Wähler gewinnen. Ich habe in meiner Kampagne den Fokus darauf gesetzt, die Menschen mit einfachen Botschaften abzuholen und Hoffnung, das hat auch funktioniert. Das ist der Schlüssel zum Erfolg. Ich glaube fest daran, dass die Linke den Rechtsrutsch in den nächsten Jahren korrigieren kann.

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Was packen Sie im Nationalrat als Erstes an?
Zuerst muss ich die Situation mit meiner Assistenz regeln, ich habe Menschen, die mich in meinem Alltag unterstützen. Danach erarbeite ich mir eine Strategie für die nächsten vier Jahre. Mein Ziel ist es mehrheitsfähige Vorschläge einzubringen im Parlament. Denn es gibt viele Beispiele: im Behindertenwesen bei der Invalidenversicherung, aber auch in der Altersvorsorge und in dem Gesundheitswesen mit den explodierenden Kosten. Da muss etwas getan werden.

Können Sie auch etwas Anderes als Identitätspolitik?
Ich habe nie Identitätspolitik gemacht. Inklusion betrifft uns alle. Der Fall von Philipp Kutter, der nach einem Skiunfall im Rollstuhl sitzt, zeigt: Es braucht nur eine Sekunde – jeder kann behindert werden. Ich will das Thema Inklusion in den Mainstream bringen. Meine Politik ist nicht nur für Behinderte.

Wahlen 2023: Es blieb nicht nur bei den T-Shirts: auch Taschen wurden angefertigt
Es blieb nicht nur bei den T-Shirts: auch Taschen wurden angefertigt.Bild: watson

Sondern?
Ich mache Politik für alle Menschen – für die 99 Prozent der Menschen, die nicht das Leben eines privilegierten, alten, weissen Mannes führen, der sich alles leisten kann. Ich mache klassische, sozialdemokratische Politik – aber halt aus der Sicht einer behinderten Person.

«Sorry, ganz schnell. Kann ich stören? Es tut mir furchtbar leid. Ich will Islam gratulieren. Voll gut. Ich hatte so Freude», sagt ein Mann, der in seinem Rollstuhl angefahren kommt. «Du wirst es gut machen, ich weiss das.» Aljaj bedankt sich herzlich.

Und was sieht eine behinderte Person anders, als eine, die nicht im Rollstuhl sitzt?
Ich muss mir Gedanken machen, wie ich etwas meistere. Meine Assistenz begleitet mich durch meinen Alltag. Ich werde konstant daran erinnert, dass ich eine Behinderung habe. Als ich 16 Jahre alt war, hatte ich in der Sonderschule das Niveau der sechsten Klasse besucht – das war meine damalige Realität. Und bald sitze ich im Nationalrat.

Sie haben vier Jahre Zeit, die Zukunft Ihrer zwei Kinder zu verändern – zu verbessern. Wie machen Sie das?
Sie sollen verstehen, dass alle Menschen ihre eigene Geschichte schreiben können. Ich will, dass sie wissen, dass sie alles schaffen können, was sie wollen – aber nur, wenn die Bedingungen da sind. Diese Bedingungen muss die Politik schaffen und dafür setze ich mich ein.

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46 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Neruda
23.10.2023 10:00registriert September 2016
Auf SRF stand unter Beruf Körperbehinderter 🙈😆

Auch als Lobbyist für Körperbehinderte ist er dies doch nicht als Beruf, sondern Lobbyist. Einer der wenigen guten und nützlichen. Denn im Gegensatz zu Banken und Verdicherungen sind Menschen mit Behinderung tatsächlich untervertreten im Parlament und brauchen deshalb Lobbyisten.

Hoffe, er kann hier etwas erreichen, auch wenn es ganz schwer wird mit einer erstarkten SVP.
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Jonas der doofe
23.10.2023 10:02registriert Juni 2020
Herzliche Gratulation.

Ich wünsche ihm das Beste.
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Dr. S. Cooper
23.10.2023 09:46registriert Dezember 2022
Herzliche Gratulation
Ich freue mich sehr über diese Wahl, nicht nur, weil ich selber behindert bin, sondern weil Islam ein heller Kopf ist, der hoffentlich auch gehört wird.
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