Der Informationsvorsprung, den die Grünen von der SP erhielten, war klein. Kurz bevor der Termin zur ausserordentlichen Medienkonferenz von Bundespräsident Alain Berset bekannt wurde, teilte die SP-Spitze den Grünen mit: Alain Berset tritt auf Ende Legislatur zurück.
Diesmal liessen sich die Grünen aber nicht auf dem linken Fuss erwischen. Sie hatten das Szenario «Abgang Berset» schon länger vorbesprochen. Die Medienmitteilung war schnell geschrieben und von Fraktionsspitze und Präsident Balthasar Glättli abgesegnet.
«Die Grünen haben Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat», steht darin. «Sie planen, bei den Gesamterneuerungswahlen im Dezember 2023 anzutreten.»
Deutlich spannender ist, was fehlt: der Satz, dass die Grünen keinen Bundesratssitz der SP angreifen. Die Fraktion prüfe «alle Szenarien», heisst es darin. Im Umkehrschluss bedeutet das: Die Grünen nehmen auch den SP-Sitz von Alain Berset ernsthaft ins Visier. Stand heute ist das die einzige Vakanz in der Regierung. Und die bürgerlichen Parteien haben sich stets dagegen ausgesprochen, einen amtierenden Bundesrat abzuwählen.
Die Medienmitteilung kommt einem Paradigmenwechsel gleich. Bisher war die offizielle grüne Sprachregelung stets: Grüne und SP wollen gemeinsam wachsen und streben einen dritten Bundesratssitz an.
Aline Trede, die grüne Fraktionschefin, erklärt, was bei ihr geschehen ist. «Lange mass ich einem Bundesratssitz nicht so grosse Bedeutung zu», sagt sie. «Bis ich realisiert habe, dass die Klimapolitik in der Regierung nicht vertreten ist. Darum müssen wir jetzt die Machtspiele mitmachen.» Ziel der Grünen ist ein Bundesratssitz.
Deshalb bereiten sich die Grünen minutiös auf die Wiederwahlen des Gesamtbundesrats vor. Seit Monaten ist eine dreiköpfige Findungskommission am Werk, deren Mitglieder geheim sind. Klar ist: Sie hat bereits 60 Personen dazu interviewt, ob sie sich eine Kandidatur für den Bundesrat vorstellen könnten.
Dabei wurden sämtliche Szenarien abgefragt. Die Interviewten mussten auch explizit auf die Frage antworten, ob sie bereit sind, für einen Bundesratssitz der SP zu kandidieren. Gut 20 Personen sind nun in der zweiten Bewerbungsphase.
Dazu könnten Nationalrat Bastien Girod (ZH) und Ständerat Mathias Zopfi (GL) gehören. Beide haben das Potenzial, Stimmen bei der SVP zu holen. Girod, weil er im Energiebereich mehrfach eng mit dem neuen SVP-Bundesrat zusammengearbeitet hat. Auch Zopfi hat ähnliche Erfahrungen mit SVP-Vertretern. Die Chefs von SVP, FDP und Mitte betonen zwar öffentlich unisono, dass sie den zweiten SP-Bundesratssitz stützen. Dennoch erhalten die Grünen aufmunternde Signale von GLP und teilweise von der Mitte.
Vor allem in der ersten Phase der neuen Legislatur war das Verhältnis im linken Lager angespannt. Das hatte mit der grünen Welle zu tun bei den Wahlen 2019. Die Grünen schnellten von 7.1 auf 13.2 Wählerprozente hoch und holten sich neu fünf Ständerats- und 28 Nationalratssitze. Das führte dazu, dass Grün nicht mehr bereit war, als Juniorpartner von Rot aufzutreten. Grün suchte die Emanzipation.
So lehnten es die grünen Ständeratsmitglieder ab, sich in die SP-Ständeratsgruppe integrieren zu lassen. Sie wollten eine eigenständige Gruppe bilden. Das zahlte sich aus. Dank Allianzen mit den Bürgerlichen erreichten sie vor allem dank Lisa Mazzone (GE), Mathias Zopfi (GL) und Maya Graf (BL) Kompromisse bei der Solaroffensive, dem Mantelerlass zu einer sicheren Stromversorgung und dem Sexualstrafrecht. Einen eigentlichen Coup landeten sie mit dem erleichterten Zugang der Sans-Papiers zur Berufsbildung.
Präsident Glättli entwickelte die Farbgebung der Partei – aussen grün und innen rot wie die Wassermelone – in dieser Legislatur weiter. Und zwar in Richtung konservatives Mitte-Orange, wie es die Zuckermelone bietet. Damit stärkte Glättli das staatstragende Element – gerade auch im Hinblick auf die Erneuerungswahl des Bundesrats 2023.
Die SP stellt zwar ihr Rot ganz klar ins Zentrum, betont aber seit den Wahlen auch ihre grüne Seite stärker. Gleichzeitig entwickelt sie sich unter dem Einfluss der ehemaligen Jungsozialisten an der Spitze zunehmend in Richtung Bewegung – wie das die Grünen schon sind.
Bei der SP selbst gibt man sich ob der grünen Bundesratsambitionen betont gelassen. Die Zusammenarbeit in den vergangenen Monaten sei hervorragend gelaufen, sagt Co-Präsidentin Mattea Meyer, «und aktuell verfolgen wir mit der Klimafonds-Initiative ein grosses gemeinsames Projekt».
Wer sich in der SP-Fraktion umhört, erntet gar Verständnis für die Ankündigung der Grünen, einen Bundesratssitz anzustreben: So etwas gehöre zum Wahlkampf und nicht zuletzt stehe für die Grünen auch die Glaubwürdigkeit der eigenen Basis auf dem Spiel.
Tatsache ist: Für die Wahlsiegerin von 2019 wäre nur schwer zu argumentieren, wenn sie nach den Rücktritten von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga auch eine dritte Kandidatur frühzeitig einschränken würde – zumal die Wahl ja in die neue Legislatur fällt. «Am Ende bin ich mir aber sicher, dass SP und Grüne gemeinsam stärker werden wollen, um sich für eine soziale Schweiz einzusetzen», sagt Meyer. «Ich kann mir darum auch nicht vorstellen, dass die Grünen einen SP-Sitz angreifen, da dies nur den Rechten etwas bringen würde.»
Das zeigt sich für Meyer auch daran, dass die beiden Parteien eine schriftliche Vereinbarung für flächendeckende Listenverbindungen getroffen haben. Sie soll – nach Möglichkeit – selbst im Ständeratswahlkampf gelten, wo sich die beiden Parteien teilweise direkt konkurrenzieren.
Klar scheint auch: Eine Bundesratskandidatur dürfte beiden Parteien im Wahljahr helfen. Bei den Grünen, die nun monatelang als fast sichere Wahlverlierer galten, ist seit dem Ja zum Klimaschutzgesetz und dem Abgang Bersets ein Aufbruch spürbar. Die Spitze wirkt elektrisiert. Und auch die SP könnte die schwierige Situation in eine starke Mobilisierung ummünzen.
Trotz der demonstrierten Seelenruhe verfolgt man unter Genossinnen und Genossen genau, wie die Grünen ihre Kommunikation dieser Tage bewerkstelligen. Sollte an irgendeiner Stelle der Angriff auf einen SP-Sitz klar artikuliert werden, wäre es sofort vorbei mit der rot-grünen Eintracht.
Wie schnell das gehen kann, zeigte die Auseinandersetzung um das Präsidium der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK). Zunächst brachte sich Grünen-Präsident Glättli via «Wochenzeitung» als PUK-Präsident ins Spiel. Vier Wochen später zog SP-Fraktionschef Roger Nordmann an einer Medienkonferenz nach.
Weder Grüne noch SP erhielten das Präsidium. Es waren aber die Grünen, die sich in einem Machtpoker das Vizepräsidium krallten – mit Franziska Ryser (SG).
Erreicht haben sie das mit einem «Weisswein-Deal» mit der FDP und vor allem mit der Mitte. Es floss viel Weisswein, bis klar war: Die Mitte erhält mit Isabelle Chassot (FR) das Präsidium, die Grünen mit Nationalrätin Franziska Ryser (SG) das Vizepräsidium. Und die SP geht leer aus.
(aargauerzeitung.ch)
Mal schauen, was die Wahlen bringen.