Es handle sich womöglich um eine Weltpremiere: «Die Wahlumfrage ist genauer als die amtlich publizierten Schlussresultate», schrieb Michael Hermann auf X als Reaktion auf die Datenpanne des Bundesamtes für Statistik. Der 52-jährige Politikwissenschaftler und Geschäftsführer des Forschungsinstituts Sotomo, das die besagte Wahlumfrage publizierte, sagt auch: «Jetzt kann die Schweiz keine Österreicher Witze mehr machen.» In unserem Nachbarland sorgte kürzlich ein Fiasko bei der SPÖ für Aufregung. Bei der Wahl zum Parteivorsitzenden wurden Stimmen vertauscht – und zunächst Hans Peter Doskozil anstatt Andreas Babler zum Sieger erklärt.
Michael Hermann, das Bundesamt für Statistik wird nach der Datenpanne mit Häme übergossen. Zu Recht?
Häme ist nie eine gute Reaktion. Fehler können passieren. Aber es handelt sich um eine peinliche Panne. Die Schweiz sollte präzise sein wie ein Uhrwerk. Kritik ist angebracht.
Die Sitzverteilung bleibt gleich. Was ist das Problem?
Dass die Ergebnisse sehr früh interpretiert werden und damit der Ton gesetzt wird für die mediale Berichterstattung. Genaue Ergebnisse sind zentral, weil das Tempo in den Medien hoch ist. Es war sehr lange vom zweitbesten Ergebnis der SVP aller Zeiten die Rede. Jetzt hat sich der Rechtsrutsch relativiert. Gleichzeitig verfestigte sich das Bild einer links-grünen Niederlage. Das war übertrieben. Die Schweiz bleibt auch in Krisenzeiten äusserst stabil.
Die Parteistärken haben sich nach der Korrektur der Ergebnisse nur im Bereich hinter der Kommastelle leicht verändert. Ist die Aufregung so gross, weil in der Schweiz Verschiebungen im Mikrobereich als Erdrutsch gelten?
Die Aufregung ist unter Politikern, Medienschaffenden und Expertinnen überdurchschnittlich gross, weil jetzt viele Interpretationen und Zeitungsartikel geschreddert werden können und Makulatur sind. Speziell ist die Konstellation beim Duell zwischen FDP und Mitte. Jetzt liegt die FDP doch leicht vor der Mitte.
Welche realpolitischen Folgen hat der Fehler des Bundesamtes für Statistik?
Grundsätzlich keine. Die Sitzverteilung in den Kantonen bleibt gleich. Allerdings hat jetzt die Mitte ein Argument weniger, um auf Kosten der FDP einen zweiten Bundesratssitz zu beanspruchen - wobei sie immer noch mit der grösseren Fraktionsstärke argumentieren könnte. Mitte-Präsident Gerhard Pfister zeigte sich in der Bundesratsfrage jedoch betont zurückhaltend. Und: Abgesänge auf die GLP und auf die Grünen erweisen sich als verfrüht.
In den USA gibt es eine Tendenz, Wahlergebnisse anzuzweifeln. Rechnen Sie mit ähnlichen Folgen bei uns?
Es ist ein Unterschied, ob beim Zählen selber oder beim Zusammenführen der Resultate ein Fehler unterläuft. Mit Kritik von Bewegungen wie Mass-Voll ist zu rechnen. Gleichzeitig haben diese Kreise wenig Gewicht, wie der Wahlsonntag offenbart hat. Grundsätzlich gilt: Wer ohnehin schon die Schweizer Demokratie anzweifelte, wird sich bestätigt fühlen. In breiten Kreisen wird man sich aber die Frage stellen: Weshalb arbeitet das Bundesamt für Statistik nicht besser?
Sie rechnen nicht mit einem Vertrauensverlust für die Demokratie?
Nein. Die Schweizerinnen und Schweizer sind Fan unseres Systems. Das wird nicht durch eine Datenpanne erschüttert. Das Vertrauen ins Bundesamt für Statistik dürfte jedoch angekratzt sein.
Wie kann es verbessert werden?
Indem man bei der Datenbearbeitung der Schnittstellenproblematik mehr Rechnung trägt. Ich denke nicht, dass es jetzt grosse IT-Vereinheitlichungsprojekte braucht. Der Bund muss den Kantonen nicht einheitliche Systeme vorschreiben. Er muss ihnen aber genau sagen, wie sie ihre Daten übermitteln müssen.
Schliesslich: Wer hat am meisten Grund, sich über das Bundesamt für Statistik zu ärgern?
Das SP-Co-Präsidium mit Cédric Wermuth und Mattea Meyer sowie FDP-Präsident Thierry Burkart. Sie stehen nach den korrigierten Ergebnissen deutlich besser da als vorher. Aber das vorherige Narrativ aus den Köpfen zu vertreiben, ist nicht ganz einfach. (aargauerzeitung.ch)
Ich rechne es den Verantwortlichen übrigens sehr hoch an, dass sie den Fehler offen kommuniziert, korrigiert und thematisiert haben. Unterscheidet uns von einer wirklichen Bananenrepublik, die Fehler kategorisch ausschliesst und Gegenstimmen unter Strafe stellt.
Für mich klar nein!
Etwas heikler wäre es, wenn Sitze davon tangiert würden, aber auch hier, die Kontrolle hat gegriffen.
Die Schweiz hat ganz andere Probleme, Probleme die mit einer Zahlenkorrektur nicht gelöst werden können.