Nur verhalten wurde gejubelt, als der Berner Stadtschreiber gestern Nachmittag für einmal früher als erwartet ans Stehpult trat und im Rathaus das Ergebnis verkündete: Gewählt ist mit 58 Prozent der Stimmen Alec von Graffenried. Überraschend deutlich hat sich der Baulobbyist und Angehörige des Berner Stadtadels in der Ausmarchung um das Stadtpräsidium gegen die Gemeinderätin und Ex-Fraktionschefin der SP im Bundeshaus, Ursula Wyss, am Ende durchgesetzt.
Die kleine Grüne Freie Liste überflügelt damit die Berner Hausmacht, die Sozialdemokraten. Die anwesenden Genossen waren denn auch geschockt. Damit hatten sie nicht gerechnet. «Es ist ein Privileg, Stadtpräsident von Bern zu sein», zeigte sich der frisch gekürte Stadtpräsident überwältigt.
Von Graffenrieds Sieg ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert, ja historisch: In keiner anderen Stadt der Schweiz ist die Linke so stark verankert wie in Bern – und doch bleibt ausgerechnet in der Hauptstadt der politische Top-Job weiterhin fest in Männerhand.
Wenn der abtretende Stadtpräsident Alexander Tschäppät von der SP heute den Schlüssel zum Präsidentenbüro im Erlacherhof an seinen Nachfolger übergeben wird, endet auch die 24 Jahre dauernde Regentschaft der grössten Stadtpartei.
Und das Ancien Régime übernimmt das Zepter: erstmals seit 1937 steht wieder ein Bernburger an der Spitze (und mit dem zweiten neuen Gemeinderat Michael Aebersold (SP) stellen die Burger nun sogar zwei Mitglieder der Stadtregierung).
Rückblende: Noch Ende November hatten beide Kandidaten Grund zu feiern. Ihr gemeinsames Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) eroberte bei den Wahlen in die fünfköpfige Berner Regierung einen vierten Sitz. Die FDP flog raus. Und die SVP ist schon seit Jahren nicht mehr in der Regierung vertreten.
Wyss wurde als Vorsteherin der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün für vier weitere Jahre bestätigt und alt Nationalrat von Graffenried zog mit dem besten Ergebnis neu in die Stadtregierung ein. Auch aus den Parlamentswahlen ging das RGM-Bündnis gestärkt hervor. – Ein Vierteljahrhundert nach der Gründung steht RGM so stark da wie nie zuvor.
Inhaltlich unterscheiden sich die Kandidaten jedoch kaum. Von Graffenried wie Wyss kämpfen für eine rot-grüne Städtepolitik: mehr Plätze für die ausserfamiliäre Betreuung, mehr bezahlbarer Wohnraum, Ausbau des öffentlichen Verkehrs und einen autofreien Bahnhofplatz. Auch bei der Reitschule zeigen sich keine Unterschiede.
Sowohl Wyss wie von Graffenried wollen das umstrittene Kulturzentrum mit öffentlichen Geldern unterstützen. Umso erstaunlicher, dass der Wahlkampf der beiden Bündnispartner Bern polarisierte wie lange nicht mehr. Statt über Inhalte zu streiten, verlagerte sich der Kampf auf die persönliche Ebene. Vordergründig tauschten die Kandidaten Nettigkeiten aus.
In den sozialen Medien und Kommentarspalten teilten ihre jeweiligen Unterstützer allerdings kräftig gegeneinander aus. Von Graffenried, der sich selber als «Brückenbauer» zwischen den politischen Lagern positionierte, wurde von seinen Gegnern als politischer Opportunist kritisiert, der gerne laviere. Ein strahlendes Lächeln ohne politisches Fundament. Als Direktor des Baukonzerns «Losinger Marazzi» sei er zudem befangen, wenn es darum gehe, Bauprojekte in der Stadt zu realisieren.
Wyss dagegen wurde von der Gegenseite das Etikett einer kühlen, machtbewussten Karrierefrau verpasst. Sie ereilte damit ein ähnliches Schicksal wie im US-Wahlkampf Hillary Clinton. Wyss galt als Ziehkind Tschäppäts und der SP-Schickeria. Als «Profipolitikerin».
«Es war eine politische Wahl, nicht eine Frage ob Mann oder Frau», kommentierte von Graffenried. Seinen Erfolg führte der 54-jährige Anwalt auf die 50 Jahre zurück, die er in Bern ansässig sei. Er habe es in dieser Zeit mit niemandem verdorben. Seine Stimmen kämen nicht nur aus dem bürgerlichen Lager, das von Graffenried zur Wahl aufgefordert und dann auch empfohlen hat, sondern aus allen politischen Ecken der Stadt.
Er gewann denn auch sämtliche Zählkreise, am deutlichsten die traditionell bürgerlichen. Auch die hohe Wahlbeteiligung von knapp 50 Prozent zeigt, dass von Graffenried in der zweiten Runde das bürgerliche Spektrum mobilisieren konnte. Der Wunsch nach einem parteipolitischen Wechsel an der Stadtspitze war offenbar stark.
Alec von Graffenrieds Wahl ist denn auch als Korrektiv zu werten für den durchschlagenden Erfolg der Linken in der ersten Runde der städtischen Wahlen. Ob der teilweise schmutzige Wahlkampf nicht Spuren hinterlasse? «Nein», sagte von Graffenried. Die Verletzungen seien von den Medien herbeigeschrieben worden. Wyss gab sich als faire Verliererin: Sie wäre zwar gerne Berns erste Stapi geworden, freue sich nun aber auf die weitere Zusammenarbeit mit ihrem ehemaligen Kontrahenten von Graffenried.