Es braucht bloss ein paar Mausklicks. In zwei Minuten, verspricht «Kirchenaustritt Schweiz» auf seiner Website, ist der Kirchenaustritt erledigt. Stefan Amrein aus Sursee hat den Verein 2010 gegründet. Als er selber aus der katholischen Kirche austrat, realisiert er: «Ganz so einfach ist das gar nicht.» Denn je nach Kirchgemeinde braucht es andere Dokumente, muss das Austrittsschreiben unterschiedlich formuliert sein.
Inzwischen gibt es viele Onlineportale, die Hilfe für den Kirchenaustritt anbieten. Dass es eine Nachfrage gibt, zeigt ein Blick auf die Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts. Die jüngsten Daten stammen vom Oktober 2022 und zeigen: 2021 traten in der Schweiz insgesamt 62’718 Personen aus der Landeskirche aus - 28’536 davon aus der evangelischen und 34’182 Personen aus der katholischen. Das sind so viele wie noch nie.
«Es gibt durchaus Menschen, die uns die Schuld für diese Zahlen geben», sagt Amrein. Er findet diesen Vorwurf allerdings falsch. Austretenden erzählten ihm einerseits, dass sie keine Kirchensteuer mehr bezahlen wollten, weil ihnen die Kirche nichts gebe. Andererseits seien viele von rückschrittlichen Wertehaltungen der Kirche abgestossen. «Ausserdem wissen immer weniger Menschen über die Kirche, den Glauben und die Traditionen Bescheid.» Den besten Beweis dafür liefert Amrein gleich selbst:
Jörg Stolz überrascht diese Aussage nicht. Der Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne spricht in seinem 2021 publizierten wissenschaftlichen Paper von «Generationen des abnehmenden Glaubens». Fehlendes Interesse und Wissen müssen aber nicht unmittelbar zum Kirchenaustritt führen, weiss Stolz.
«Oft kommt noch ein Auslöser dazu.» Die Steuerrechnung könne einer sein. Oder eine negative Erfahrung mit einer Person, welche die Kirche repräsentiere. «Aber auch die Wahrnehmung eines Kirchenskandals kann als Trigger fungieren.» Stolz spielt damit auf Missbrauchsskandale in der Schweiz und im Ausland an, die in den letzten Jahren publik wurden. Insbesondere die katholische Kirche wurde davon erschüttert.
Zwar verliessen in absoluten Zahlen mehr katholische Gläubige die Kirche. Die Austrittsquote war im vergangenen Jahr bei den Reformierten aber höher. «Tatsächlich sind die Austrittsdynamiken bei der katholischen und evangelischen Kirche recht ähnlich - obwohl sich die Kirchen organisatorisch und theologisch sehr stark unterscheiden», sagt Stolz. Das liege daran, dass die stark von der Kirche distanzierten Mitglieder diese Unterschiede kaum oder gar nicht mehr wahrnehmen würden.
Diese generelle Distanz zur Kirche könnte auch erklären, weshalb das Bistum Basel mit Bischof Felix Gmür, der als offen gilt, proportional mehr Mitglieder verliert als das Bistum Chur, wo während Jahren der äussert konservative Vitus Huonder schaltete und waltete.
Viel wichtiger als die theologische Ausrichtung eines Bischofs sind gemäss Stolz nämlich soziodemografische Merkmale der Bevölkerung. «In Grossstädten liegen die Austrittszahlen generell immer höher, weil man hier ein jüngeres, linkeres, gebildeteres Publikum findet, welches eine schwächere Kirchenbindung aufweist.»
Es überrascht daher nicht, dass der Kanton Basel-Stadt seit Beginn der Statistik des SPI an der Spitze steht. 3.6 Prozent der Mitglieder traten hier 2021 aus der katholischen, 3.3 Prozent aus der evangelischen Kirche. In keinem anderen Kanton war die Austrittquote so hoch. Inzwischen sind über 50 Prozent der Basler Bevölkerung konfessionslos.
Basel ist nicht die einzige Schweizer Grossstadt. Warum bewegen sich die Austrittszahlen in den Kantonen Zürich, Genf oder Bern nicht auf demselben Niveau? Dafür gibt es gemäss Urs Winter, Theologe am Pastoralsoziologischen Institut, zwei unterschiedliche Gründe.
Da wäre einerseits der Röstigraben: In der Westschweiz besteht meist eine andere Kirchenstruktur als in der Deutschschweiz und in gewissen Westschweizer Kantonen zahlt man keine Kirchensteuern – ergo gibt es auch kaum Gründe, den Aufwand eines Kirchenaustritts auf sich zu nehmen. «Andererseits können in Zürich und Bern im Gegensatz zum Kanton Basel-Stadt die ländlichen Regionen, etwa das Oberland, die hohen Austrittszahlen in den Städten kompensieren», sagt Winter.
Auch die Kantone Solothurn und Aargau sind ländlich geprägt. Trotzdem weist Solothurn schweizweit bei den Katholiken und Reformierten die zweithöchste Austrittsquote auf.
Der Aargau findet sich im Hinblick auf die Austritte aus der katholischen Kirche auf dem dritten, bei der evangelischen auf dem vierten Platz. Winter erklärt: «In Agglomerationen sind wohl ähnliche Entwicklungen feststellbar wie in Städten: Die Menschen sind lokal – also auch in der Kirchgemeinde – weniger stark verankert.»
Winter weiss aber auch: Kirchgemeinden können die lokalen Austrittszahlen durchaus befeuern - etwa durch politische Haltungen. «Manche Kirchgemeinden bezogen zum Beispiel im Jahr 2020 nicht nur öffentlich Position für die Konzernverantwortungsinitiative, sondern warben sogar mit Plakaten an ihren Kirchtürmen dafür», sagt Winter. Dieses politische Engagement dürfte einigen Mitgliedern sauer aufgestossen sein.
Politisches Engagement hin, kantonale Unterschiede her, ein Trend hält sich in allen Deutschschweizer Kantonen hartnäckig: Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken – insbesondere junge Menschen. Der Austritt erfolgt gemäss Religionswissenschaftler Jörg Stolz nämlich meist im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Später sei dies eher unwahrscheinlich, weil die religiöse Identität dann meist gefestigt sei.
Entscheidender für den Mitgliederverlust der Kirche sei eine andere Tatsache: Viele Kinder werden gar nicht mehr getauft. Sicher nicht hilfreich war die Pandemie. Urs Winter sagt: «Taufen konnten 2020 und 2021 teilweise nicht stattfinden. Einige Eltern haben diese später dann nicht mehr nachgeholt.»
Der katholischen Kirche werden die Schäfchen wohl trotzdem nicht so schnell ausgehen. Nicht, weil genügend Menschen zu den Institutionen zurückfinden – so gibt es im Schnitt nur einen Kircheneintritt auf 37 Austritte – sondern, weil die Bevölkerung durch Zuwanderung stetig wächst und gläubige Ausländer ins Land kommen.
«Personen mit Migrationshintergrund gehören häufiger der katholischen Kirche an als der evangelischen und gleichen die Verluste der katholischen Kirche etwas aus», sagt Winter. Stefan Amrein von «Kirchenaustritt Schweiz» hat eine eigene Erklärung für diesen Ausgleich: «Es gibt wohl auch deshalb viel Nachschub durch Migration, weil vielen Neuzuzügern nicht bewusst ist, dass sie automatisch der Landeskirche beitreten, wenn sie bei der Anmeldung auf der Gemeinde ihre Konfession ankreuzen.»
Amrein möchte deshalb betonen, dass es in Bezug auf die staatlichen Prozesse in Zusammenhang mit der Kirche noch einiges an Aufklärungsbedarf in der Gesellschaft braucht. Dem verschrieben hat sich sein Verein – wohl aus Überzeugung. (aargauerzeitung.ch)
Die Kirche war und ist bis heute der einzige Verein bei welchem ich ohne eine eigene Willensbekundung Mitglied wurde.
Nach der Konfirmation bzw. Kommunion sollte bevor erstmals Kirchensteuer eingefordert werden darf erst ein schriftlicher Beitritt vorliegen.
Ich erfuhr erst später, dass diese Mitgliedschaft 'freiwillig' ist.