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So viel darf ein gerettetes Lebensjahr kosten: Neue Studie

This photo provided by Dr. Elana Shpall in February 2020 shows her artwork made from prescription medication tablets, capsules and pills. About 91% of people over 65 take at least one prescription med ...
Pillen in allen Farben und Formen. Kunstwerk von Elana Shpall.Bild: AP

Wie viel darf ein gerettetes Lebensjahr kosten? Neue Studie will Debatte ankurbeln

Die liberale Denkfabrik Avenir Suisse schlägt vor, Medikamentenpreise nach dem finanziellen Wert eines gesunden Lebensjahres zu bemessen. So stehen Pharmaindustrie, Krankenkassen und eine Patientenorganisation zum revolutionären Vorschlag.
19.05.2023, 07:58
Rahel Künzler / ch media
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2.2 Millionen Franken. So viel kostet eine einzige Infusion mit dem teuersten Medikament in der Schweiz, Zolgensma von Novartis. Die Gentherapie soll Babys mit spinaler Muskelatrophie (SMA) einer tödlichen Erbkrankheit, bei der sich zunächst die Nervenzellen im Rückenmark, dann die Muskeln zurückbilden, heilen. Weltweit ist etwa 1 von 6000 Neugeborenen betroffen.

Pharmafirmen bringen immer mehr Gen- und Zelltherapien für seltene Autoimmunkrankheiten wie SMA oder spezifische Krebsarten auf den Markt. 2021 gehörten rund die Hälfte der in der Schweiz neu zugelassenen Wirkstoffe zu den Krebs- und Immunsuppressiva. In den Jahren 2019 und 2020 hatte dieser Anteil noch 36 Prozent beziehungsweise 47 Prozent betragen.

Neue, innovative Medikamente ermöglichen grosse Fortschritte bei der Behandlung schwerer Krankheiten. Gleichzeitig sind sie ein Treiber der steigenden Gesundheitskosten. Die 20 umsatzstärksten, kassenpflichtigen Medikamente machen einen Fünftel der Medikamentenkosten von jährlich 8 Milliarden Franken aus, wie aus einer Analyse des Krankenkassenverbands Curafutura hervorgeht.

Gerettete Lebensjahre sollen gezählt werden

«Wann sind neue Medikamente zu teuer?», lautet denn auch der Titel einer kürzlich veröffentlichten Studie der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse. Im 70-seitigen Dokument werden verschiedene Vorschläge ausgearbeitet, wie in der Schweiz ein rascher Zugang zu innovativen Medikamenten gewährleistet werden kann, ohne dass die Prämien zu stark steigen.

Dabei ist ein Vorschlag besonders brisant: Der Preis eines Medikaments soll unter anderem vom Wert abhängen, den die Gesellschaft einem gewonnenen gesunden Lebensjahr beimisst. Für die Kosten-Nutzen-Rechnung nennen die Studienautoren und -autorinnen eine in der Gesundheitsökonomie etablierte Masseinheit: qualitätsgewichtete Lebensjahre, kurz Qaly (vom Englischen quality-adjusted life years). Ein Qaly von 1 steht dabei für 1 Jahr bei voller Gesundheit, während ein Qaly von 0 dem Tod entspricht.

Gesundheitlichen Nutzen statt Preis vergleichen

Konkret sollen nun Pharmafirmen bereits während der klinischen Prüfung eines neuen Medikamentes ausweisen, wie viele zusätzliche Qaly ihr Präparat gegenüber einem vom Bund bestimmten Therapiestandard bringt. Gibt es noch keine Therapie, würde der Mehrwert gegenüber einer Placebo-Behandlung ermittelt.

Parallel dazu soll die Politik festlegen, wie viel Geld die Bevölkerung für ein zusätzliches gesundes Lebensjahr bereit ist zu zahlen. Dieser Betrag würde mit der Zahl der Qalys multipliziert. So würde dann die Preisobergrenze festgelegt, bis zu der die Therapie noch als wirtschaftlich gilt und folglich von der Grundversicherung bezahlt wird.

In Europa kennt England als einziges Land ein ähnliches System. Hierzulande bestimmt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Medikamentenpreis derzeit mit zwei Kriterien: einem Vergleich mit bereits in der Schweiz vergüteten Arzneien gegen dieselbe Krankheit und dem Auslandpreisvergleich.

Letztere Praxis ist umstritten, weil gerade bei teuren Medikamenten der effektiv bezahlte Preis in den meisten Ländern geheim gehalten wird. Stattdessen dienen künstlich erhöhte «Schaufensterpreise» als Referenz. Der Leiter der Avenir-Suisse-Studie, Jérôme Cosandey, sagt: «Wir müssen den Nutzen quantifizieren können. Sonst ist es reines Powerplay zwischen BAG und Pharmaindustrie.»

13.12.2022, Berlin: Beatrix Schmidt, Chef
Ein Baby auf einer Intensivstation in der Schweiz.Bild: keystone

Bundesgericht hat Qaly-Ansatz bereits angewandt

Die Studie liefert einige Ansätze, wie der Wert eines geretteten Lebensjahres berechnet werden könnte. Angemerkt wird, dass der Bund im Bereich der Verkehrssicherheit den Wert eines geretteten Lebens bereits jährlich bestimmt. Derzeit liegt der Betrag bei 6.9 Millionen Franken und ist ausschlaggebend dafür, wie viel Geld beispielsweise in den Bau von Rettungsinseln in einem Tunnel investiert wird.

Im Gesundheitsbereich existiert bisher kein solches Konzept. Auch das Bundesgericht hat nie allgemein festgelegt, wie viel ein gesundes Lebensjahr wert ist. Konfrontiert mit der Kosten-Nutzen-Bewertung eines spezifischen Medikaments, kam die oberste Instanz jedoch 2010 zum Schluss, dass in der Grundversicherung Therapiekosten von maximal 100'000 Franken pro Qaly angemessen sind.

Eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2018 befand ausserdem, dass die Schweizer Bevölkerung bereit wäre, bei Behandlungen am Lebensende rund 200'000 Franken für ein zusätzliches Lebensjahr zu zahlen.

Abgesehen von der Frage nach der Höhe des Betrages hält die Avenir-Suisse-Studie fest, dass «die Pharmaindustrie nicht die alleinige Nutzniesserin des Werts eines Qaly» sein könne. Die Hausärztin oder das familiäre Umfeld seien ebenso entscheidend für den Therapieerfolg. Folglich soll gemäss Avenir Suisse nicht der gesamte Qaly-Geldwert in den Medikamentenpreis fliessen, sondern zwischen Pharma und Gesellschaft gerecht verteilt werden. Vorgeschlagen wird ein «pragmatischer Aufteilungsschlüssel» von 50:50.

Pharma: «Bei Qaly-Messung stellen sich praktische Probleme»

Gerade der gesellschaftliche Zusatznutzen innovativer Therapien würde mit dem Konzept der Qaly unzureichend abgebildet, kritisiert der Interessensverband Interpharma. So würde etwa die schnellere Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht berücksichtigt. Geschäftsleitungsmitglied Markus Ziegler sagt auf Anfrage, dass sich auch praktische Probleme bei der Messung der Qaly stellten - vor allem bei der Wahl der Vergleichstherapie. Die klinische Prüfung neuer Medikamente würde meist länger als zehn Jahre dauern. In dieser Zeit habe sich der etablierte Therapiestandard oft schon wieder verändert.

Wenn die Preisfindung hochpreisiger Medikamente einheitlicher geregelt werden soll, können laut Ziegler sogenannte Pay-for-Performance-Modelle zielführend sein. Heisst: Die Medikamente werden nur bezahlt, wenn bei den behandelten Patientinnen und Patienten die erwartete Wirkung eintritt. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Medikamente alternativ in Raten über mehrere Jahre hinweg bezahlt werden, sagt der Pharma-Vertreter.

Krankenkassen: «Politik traut sich nicht, Wert eines Lebens anzusprechen»

Andreas Schiesser von Curafutura findet politisch definierte Schwellenwerte für den Preis eines Medikamentes in der Grundversicherung «durchaus wünschenswert». Pharmafirmen würden zunehmend profitgetrieben operieren, sagt Schiesser. «Die Medikamentenpreise überborden.»

Dass die Frage nach dem Wert eines gesunden Lebensjahrs in der Politik bislang kaum diskutiert wurde, liegt laut dem Versicherungsvertreter daran, dass Politikerinnen und Politiker Angst hätten, sich zu exponieren. «Das Thema sei ähnlich heikel und emotional wie die Schliessung eines Spitals», sagt er. Klar sei, dass die Lebensqualität nicht allein durch die Qaly gemessen werden könne, sondern dass die Methode noch verfeinert werden müsse.

Patientenorganisation: «Pharma müsste sich zu Preismodell verpflichten»

Daniel Tapernoux ist beratender Arzt bei der Stiftung Patientenorganisation und Mitglied der eidgenössischen Arzneimittelkommission, die das BAG berät. Unter Vorbehalten begrüsst auch er die Stossrichtung des Qaly-Ansatzes. «Spannend wäre der Vorschlag, wenn sich die Pharmaindustrie verpflichten würde, zum so eingeschätzten Preis zu liefern», sagt Tapernoux.

Im Moment sei das Gegenteil der Fall: Weil Pharmafirmen zu hohe Preisforderungen stellten, blockierten sie die Verhandlungen. Allerdings müssten laut Tapernoux in einer Qaly-basierten Kosten-Nutzen-Analyse nicht nur das Segment der innovativen Medikamente, sondern möglichst alle medizinischen Therapien berücksichtigt werden.

Gerade bei sehr günstigen Medikamenten müsste der Preis zugunsten der Versorgungssicherheit unter Umständen gar erhöht werden. Gleichzeitig berge ein Preisdeckel die Gefahr einer Zweiklassenmedizin, vor allem, wenn die Industrie dann nicht bereit sei, zu einem darunterliegenden Preis zu liefern. Eine gesellschaftliche Debatte über den Wert eines Lebens und den damit verbundenen ethischen Aspekten sei aber längst überfällig.

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91 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Haarspalter
19.05.2023 09:00registriert Oktober 2020
Wichtiger als die Kostenfrage wäre es, in der End-of-Life Phase bei älteren Patienten und Angehörigen laufend zu erklären, was eine Therapie betreff Lebensverlängerung und Lebensqualität bringt - oder halt eben nicht mehr bringt.

Aber wenn man mit immer neueren (und teureren) Therapien den Patienten Hoffnung macht, dass sie zu den 10% gehören, welche doch noch weitere 6 Monate leben werden, ist ja klar dass alle hoffnungsvoll und willig zugreifen.

Sobald Angehörige äussern, dass „alles Mögliche“ gemacht werden müsse, sollten die Alarmglocken läuten und ein klärendes Gespräch erfolgen.
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Fred_64
19.05.2023 08:19registriert Dezember 2021
Sehr guter Ansatz und dieses Thema wird uns die nächsten Jahre intensiv begleiten.
Aber 2 Probleme werden auftauchen.
1. Die Politik wird analog ihrem Parteischema darüber schwaffeln, also keine Lösung bringen.
2. Jeder wird hier zustimmen und von sparen reden. Wenn aber das eigene Leben, oder eines nahen Verwanten, betroffen ist, dann soll Geld keine Rolle soielen. 😉
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Bahnhofskiosk
19.05.2023 08:57registriert Dezember 2021
"Eine gesellschaftliche Debatte über den Wert eines Lebens und den damit verbundenen ethischen Aspekten sei aber längst überfällig"
Die hatten wir bereits, das war eines der Kernthemen des Zeitalters der Aufklärung. Oder frei nach Kant: Der Mensch hat keinen Wert, er hat Würde und ist somit über allen Preis erhaben. Ich sehe hier gefährliches Territorium, wenn wir anfangen Jahre und Leben mit einem monetären Wert zu versehen.
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