Es schnieft, hustet und fiebert landauf, landab. Doch diejenigen, die sich unter Schüttelfrost in eine Apotheke schleppen, werden vielleicht ohne lindernde Medizin wieder nach Hause müssen. Denn in der gesamten Schweiz lichten sich die Regale in den Apotheken.
Und das nicht erst seit heute.
Einen Medikamentenengpass gebe es schon lange, zurzeit eskaliere die Situation aber. Das sagt Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler FMI und Vorstandsmitglied im Apothekerverbandes Pharmasuisse, gegenüber watson.
Ein Überblick:
Von einer Versorgungsknappheit sind aufgrund der grassierenden Grippewelle gemäss Pharmasuisse viele Erkältungs-, Husten- und Grippemedikamente betroffen. Besonders gefragt sind derzeit zum Beispiel Ibuprofen-Sirupe für Kinder als Fiebersenker, oder Hustensaft. Und auch Klassiker für Erwachsene, wie Neocitran, sind vielerorts nicht mehr zu bekommen.
«Wir warnen schon seit Jahren vor der Situation», sagt Martinelli. Als Spitalapotheker ist er denn auch regelmässig mit Patienten konfrontiert, die unter Lieferengpässen von Medikamenten leiden. Früher seien besonders die Spitäler von Medikamentenengpässen betroffen gewesen, wenn zum Beispiel Injektions- oder Infusionslösungen fehlten. Und seit einigen Jahren sind auch chronisch kranke Patienten vermehrt Leidtragende der Medikamentenpässen – zum Beispiel Epileptiker, Menschen mit Parkinson, Krebs, psychischen Erkrankungen oder chronischen Schmerzen.
Und jetzt – durch die saisonal bedingte hohe Nachfrage und die gleichzeitige geringe Liefermenge von Grippemedikamenten – ist also die breite Bevölkerung mit dem Problem konfrontiert.
Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) führt zwar eine öffentlich einsehbare Datenbank mit nicht lieferbaren Medikamenten – allerdings werden hier nur «lebenswichtige Humanarzneimittel» aufgeführt. Gelistete sind zum Beispiel Antibiotika oder Opioide gegen starke Schmerzen.
Mehr als die Hälfte der auf dieser Liste vermerkten Produkte unterlägen der Pflichtlagerhaltung, schreiben das Eidgenössisches Departement des Innern (EDI) und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einem Bericht vom Februar 2022.
Eine umfassendere online Datenbank wurde von Martinelli initiiert: drugshortage.ch. Hier können Hersteller, Ärzte oder Apotheker Meldung machen, wenn irgendein verschreibungspflichtiges Medikament nicht geliefert werden kann. Die Liste ist ellenlang – sie umfasst über 900 Positionen. Betroffen sind über 360 Wirkstoffe. Ungefähr ein Drittel dieser Lieferengpässe dauerten länger als ein Jahr.
Auf der Liste befänden sich mehr 8 Prozent aller Medikamente, die von den Krankenkassen bezahlt würden, «wenn es sie noch gäbe», so Martinelli.
Am meisten von Lieferengpässen betroffen sind Medikamente, die auf das Nervensystem (wie Epilepsiemedikamente oder Psychopharmaka) oder das Herz-Kreislauf-System (wie Blutdruckmittel) wirken. Aufgeführt sind bei drugshortage.ch aber auch etwa HIV-Medikamente, oder verschreibungspflichtige Paracetamol-Tabletten und Opioide.
Viele Arzneimittel sind bei drugshortage.ch als komplett vergriffen aufgeführt. Von diesen Medikamenten stehen fast 420 auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Stand 29. Dezember 2022). Sie werden also empfohlen, um die dringendsten medizinischen Bedürfnisse einer Bevölkerung zu decken. Und diese Zahl entwickle sich sehr dynamisch, so Martinelli.
Im Bericht des EDI und des BAG vom Februar 2022 wird zudem von einer «Zunahme schwerwiegender Engpässe» bei Impfstoffen gewarnt. Unter anderem solche gegen Tollwut, Diphtherie oder Tetanus.
Und wie steht es um eine Übersicht über diejenigen Medikamente, die man bei Grippe oder Erkältung direkt in der Apotheke bekommt? Chefapotheker Martinelli fasst zusammen:
Der akute Medikamentenengpass für nicht-verschreibungspflichtige Medikamente ist entsprechend nicht nur für Erkrankte anstrengend. Sondern vor allem für das Fachpersonal, das hinter der Apotheken-Theke steht, eine Mammutaufgabe. Nicole Demierre Rossier von Pharmasuisse schreibt auf Anfrage von watson:
Eine einzige besonders betroffene Gruppe kann nicht ausgemacht werden. Im Gegenteil, jede und jeder kann von einem Medikamentenengpass tangiert werden – auch über die Grippe hinaus. Martinelli spricht Klartext:
Dem Apotheker macht denn auch das Fehlen derjenigen Medikamente Sorge, die kurzfristig das Leben erhalten. Zum Beispiel das Präparat Actilyse, das bei Schlaganfällen eingesetzt wird – und das weltweit sehr knapp sei zurzeit.
Aber auch das Fehlen von Antibiotika ist problematisch. Denn neben den zunehmenden Resistenzen gibt es auch mehrere Antibiotika, die von Lieferengpässen betroffen sind – auch solche für Kinder. Einige davon fehlten «an breiter Front», sagt Martinelli.
Die Grippewelle schwappt also übers Land und die fehlenden Grippe-Medikamente üben kurzfristig einen sehr hohen Druck auf das Gesundheitssystem aus, das derzeit ohnehin am Anschlag ist.
Zum einen bekommen Erkrankte oder Eltern von kranken Kindern derzeit in Apotheken nicht immer rezeptfreie Medizin, um Beschwerden oder sehr hohes Fieber zu lindern. Zum anderen sind viele Haus- und Kinderarztpraxen aktuell ferienhalber geschlossen oder bieten nur reduziert Sprechstunden an. Darum bleibt für viele als letzte Option nur noch der Notfall eines Spitals, um zum Beispiel an Fiebersenker zu kommen – oder aufgrund von Ansteckungen eingewiesen zu werden.
Eine weitere direkte Folge des Engpasses bei nicht-verschreibungspflichtigen Medikamenten spüren einige Eltern von kranken Kindern direkt im Portemonnaie: Aufgrund des Engpasses an Ibuprofen-Sirupen stellen einige Apotheker das Medikament selbst im Labor her. Doch auch wenn ein ärztliches Rezept für einen Ibuprofen-Sirup vorhanden ist, müssen die Substitutionen der Apotheker manchmal von den Patienten selber berappt werden – denn nicht alle Krankenkassen übernehmen in diesem Fall.
Bei verschreibungspflichtigen Medikamenten ist bereits das Wort «Triage» auf dem Tisch. Für das Schlaganfall-Medikament Actilyse hat der Bund zum Beispiel mittels Verordnung die Anwendung eingeschränkt. Martinelli sagt:
Allerdings seien hier vor allem die Spitäler gefordert, so der Apotheker.
Welche langfristigen Folgen die derzeitige Lage haben könnte, sei nur sehr schwierig abzusehen, meint Demierre Rossier. Denn «die Situation beschränkt sich nicht auf die Schweiz, sondern es ist ein internationales Problem».
Die Sprecherin von Pharmasuisse erinnert daran, dass in Hinblick auf langfristige Folgen der individuelle Patient nicht vergessen werden darf: «Das hängt vom Medikament, von der Krankheit und auch vom Patienten ab.» Laut Martinelli gingen längerfristig wegen der fehlenden Medikamente Therapieoptionen in der Schweiz verloren – was vor allem Kinder und ältere Patienten bereits seit einigen Monaten betreffe.
«Die Gründe für diese Engpässe sind vielfältig», so Demierre Rossier. Ein zentrales Problem sei, dass viele medizinische Güter aus Kostengründen in Asien hergestellt würden. Darum komme es zu Lieferengpässen, da gewisse Wirkstoffe, aufgrund der langen Covid-Lockdowns in China schlicht nicht lieferbar seien zurzeit, schreibt Demierre Rossier.
Denn meist gibt es nur noch einen oder zwei Hersteller eines wichtigen Bestandteils von Medikamenten. Fällt dieser aus, verzögert oder verunmöglicht dies die gesamte Produktion.
Ausserdem beschränkt China seine Medikamentenexporte derzeit und es bestünde eine generelle Versorgungslücke aufgrund der Covid-19-Pandemie, des Ukrainekriegs und der Energiekrise, so die Sprecherin von Pharmasuisse.
Ein Hohn für viele Kranke: Manchmal können Medikamente nicht geliefert werden, weil Verpackungsmaterialien wie Karton oder Aluminiumfolien fehlen.
Um Medikamentenengpässe wenigstens in der Schweiz langfristig zu beheben, sieht der Chefapotheker Martinelli die Politik in der Pflicht. Bis jetzt stünden dort aber vorwiegend die Preise von Medikamenten und nicht die Verfügbarkeit der Produkte für Patienten im Fokus der Diskussionen. Dabei sollte man beides im Blick behalten, meint er.
«Es gibt einen Strauss von Möglichkeiten, die Leistungserbringer kurzfristig in der aktuellen Situation zu unterstützen», sagt Martinelli. So fehlten unter anderem Richtlinien, wie man fehlende Medikamente einfach durch andere ersetzen könne. Zudem könne ein Blick in andere Länder wie Belgien erfolgversprechende Ansätze aufzeigen, die diesbezüglich sehr aktiv seien. Denn dort dürften Apotheken aus Erwachsenenmedikamenten Kindermedikamente herstellen – die dann auch bezahlt werden von den Krankenkassen.
Für die langfristige Versorgung der Schweiz mit Medikamenten hat der Bund in seinem Bericht vom Februar Massnahmen geprüft und vorgeschlagen. Mehrere Politiker von links bis rechts haben Vorstösse zur Problematik eingereicht. Einige sind bereits behandelt, andere noch hängig.
Martinelli ist darum optimistisch. Medikamentenengpässe werden auch in Zukunft vorkommen, meint er. «Aber wir werden lernen, damit besser umzugehen und sie eher zu vermeiden.»
Nicht motzen, nächstes Jahr wählen gehen!