Vergangenen Sonntag fand in Glarus die alljährliche Landsgemeinde statt. Tausende Bürgerinnen und Bürger versammelten sich im Zentrum des Hauptorts auf dem «Zaunplatz». Frau Landammann Marianne Lienhard (SVP) eröffnete das Spektakel feierlich, stützte sich während der Verhandlungen auf das Landesschwert und wie es die Tradition gebietet, wurde im Anschluss Glarner Kalberwurst gegessen.
Über 17 Traktanden wurde abgestimmt. Per Handzeichen. Die Mehrheiten wurden durch Abschätzen ermittelt – und hier endet die Tradition. Denn die erreichten Mehrheiten zeichneten eher das Bild eines äusserst progressiven Kantons.
So befürwortete die Landsgemeinde mit deutlicher Mehrheit, dass der Klimaschutz einen eigenen Verfassungsartikel bekommt, so wie dies bisher nur in Bern der Fall ist. In Zürich wird man am 15. Mai darüber abstimmen. Zudem wurde mit einem knappen Mehr entschieden, künftig autofreie Sonntage – sogenannte «Slow Sundays» – im Klöntal einzuführen.
Es war nicht das erste Mal, dass der kleine Bergkanton mit rund 40'000 Einwohnern vormachte, wie klimaorientierte Politik auszusehen hat. Bei der letzten Landsgemeinde im September 2021 haben die Stimmberechtigten das kantonale Energiegesetz zum strengsten der ganzen Schweiz gemacht. Künftig dürfen im Kanton Glarus Öl- und Gasheizungen weder neu gebaut noch ersetzt werden und alle kantonalen Gebäude müssen bis in knapp zwanzig Jahren mit mindestens neunzig Prozent erneuerbaren Energien beheizt werden.
Das mag irritieren, stimmen die Glarner bei nationalen Vorlagen doch meist stockkonservativ. So wurde das CO₂-Gesetz letzten Sommer mit 60,1 Prozent bachab geschickt. Schweizweit sagten nur 51,6 Prozent Nein.
Sean Müller von der Uni Lausanne irritiert dies hingegen nicht. Für ihn ist klar, wie es zu den Unterschieden zwischen kantonalen und nationalen Abstimmungen kommt: Es sei die traditionelle Landsgemeinde, die progressive Politik fördert. Und zwar aus drei Gründen.
Die Landsgemeinde findet einmal im Jahr, jeweils am ersten Sonntag im Mai statt (ausser letztes Jahr, als sie Corona-bedingt im September durchgeführt wurde). Wer mitreden will, muss sich diesen Tag also aktiv freinehmen. «Es gehen weniger Leute an die Landsgemeinde, als an die Abstimmungen an der Urne. Bestenfalls kommen 10'000 Menschen, 30'000 wären stimmberechtigt im Kanton», sagt Müller.
Es würden also vornehmlich Personen teilnehmen, die sich wirklich für die Vorlagen interessieren. «Auch muss man in der Lage sein, überhaupt teilzunehmen. Je nach Wetter muss man 5 Stunden im Regen sitzen. Für junge Menschen kein Problem. Für die älteren Generationen unter Umständen schon.» Die Alten hätten deswegen nicht das gleiche Stimmgewicht, wie sie es bei den nationalen Abstimmungen normalerweise haben, sagt Müller.
Dass bereits 16-Jährige abstimmen können, habe aber keinen grossen Einfluss auf die Resultate. Viel bedeutender sei das Wetter, das sich vor allem auf das Erscheinen von Jungen und Frauen auswirke, die die Landsgemeinde stärker auch als sozialen Anlass sehen. Wo die 16- und 17-Jährigen jedoch einen Einfluss haben könnten, ist bei den Reden. «Wirkt eine Rednerin oder ein Redner frisch, jung und unabhängig und kann dazu noch gut sprechen, kann das schon einen grossen Unterschied machen.»
Der zweite Grund liegt laut dem gebürtigen Glarner in der Natur der Landsgemeinde. So dürfen alle Teilnehmenden zu jedem Sachgeschäft das Wort verlangen. Es werden Reden gehalten, man hört alle Seiten. «Bubbles gibt es keine an der Landsgemeinde. Man muss sich zwangsweise aus seiner Echokammer herausbegeben».
So sei es viel wahrscheinlicher, sich doch noch überzeugen zu lassen und seine Meinung zu ändern, «einfach, weil das Setting so ist, dass man beide Seite hören muss und diese dann miteinander vergleichen, beziehungsweise sich wirklich eine eigene Meinung bilden kann».
Im Unterschied zum Appenzell-Innerrhoden, der einzig andere Kanton, der ebenfalls noch Landsgemeinden kennt, könne man im Glarus zudem auch Vorlagen abändern und dementsprechend Kompromisse finden. Im Appenzell hiesse es entweder Ja oder Nein. So wurde der ursprüngliche Antrag von acht autofreien Sonntagen im Jahr zurückgewiesen, die Regierung könne nun je nach Lage die Anzahl Tage im Jahr bestimmen, an denen keine Autos im Klöntal fahren sollen. «Im Appenzell hätte es acht oder gar nichts geheissen.»
Sich beide Seiten anzuhören, könnte aber auch dazu führen, dass konservative Vorschläge mehr Zuspruch finden. Echokammern beschränken sich nicht auf bürgerlich eingestellte Menschen.
Dies führt Müller zum dritten und vielleicht wichtigste Punkt: die öffentliche Stimmabgabe. Es gibt kein Stimmgeheimnis, jeder auf dem «Zaunplatz» kann sehen, wie der jeweils andere votiert. «Man muss sich genau überlegen, ob man wirklich hinter seiner Wahl stehen kann, weil sie jeder sieht», sagt Sean Müller.
Die Konsequenz davon sei oft, dass Entscheide gefällt werden, die in eine vorausschauende Richtung gehen, die der Allgemeinheit dienen und nicht nur dem eigenen Geldbeutel. «Zwei Philosophen begründeten dies einst so: Die Landsgemeinde führt zu besseren, langfristigeren Entscheiden, weil sie einen zwingt, im Gemeinwohl zu denken. Und dann geht es schon eher in eine progressive Richtung», sagt Müller.
Glarner des Jahres 2021: Kaj Weibel (Junge Grüne)
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