Bis zur zwölften Schwangerschaftswoche darf eine Frau in der Schweiz abtreiben, ohne sich strafbar zu machen. Die sogenannte Fristenregelung gilt seit dem 2. Juni 2002. Allerdings nicht unangefochten: Seit 20 Jahren versuchen politische und ideologische Kräfte, das Abtreibungsgesetz zu verschärfen.
Das Thema ist brisant: Seit Kurzem gilt im US-Bundesstaat Oklahoma eines der landesweit strengsten Abtreibungsgesetze. Bis auf wenige Ausnahmen sind so gut wie alle Abtreibungen ab dem Zeitpunkt der Befruchtung untersagt. Auch in Europa finden sich Länder mit enorm strenger Abtreibungspolitik, so etwa Polen. Das bringt gerade Ukrainerinnen, die im Krieg vergewaltigt wurden, in eine unangenehme Situation. Viele von ihnen flüchten in das Nachbarland, wo Frauen beweisen müssen, dass sie vergewaltigt wurden, um straffrei abtreiben zu dürfen.
Auch in der Schweiz soll die Abtreibung strenger geregelt werden. Angeführt von den beiden SVP-Politikerinnen Yvette Estermann und Andrea Geissbühler, werden aktuell Unterschriften für zwei Volksinitiativen gesammelt. Die eine will einen Tag Bedenkzeit vor jedem Schwangerschaftsabbruch einführen. Die andere will Spätabtreibungen verbieten, die zu einem Zeitpunkt erfolgen, an dem das Kind ausserhalb des Mutterleibes mit medizinischer Hilfe lebensfähig wäre.
Hätten die beiden Vorlagen gute Chancen vor dem Volk? Cloé Jans vom Meinungsforschungsinstitut gfs.bern bezweifelt das. «Ich denke nicht, dass so etwas in der Schweiz mehrheitsfähig wäre.» Kaum eine Partei liesse sich finden, die eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes unterstützt, sagt Jans. «Die Abstimmung über Ehe für alle hat gezeigt, dass wir gesellschaftlich progressiv unterwegs sind.»
Es ist nicht der erste Versuch der Konservativen, die Abtreibung strenger zu regeln. Heinz Hürzeler von der EDU wollte 2014 Abtreibungen und Sterbehilfe durch die Verfassung verbieten lassen. Die Initiative «Lebensschutz stopft Milliardenloch» scheiterte im Sammelstadium.
Ebenfalls 2014 verlangte SVP-Nationalrätin Verena Herzog im Parlament «Massnahmen zur Reduktion der Schwangerschaftsabbrüche». Etwa zeitgleich wollte eine Volksinitiative erreichen, dass Abtreibungen nicht von der Grundversicherung bezahlt werden. Sie wurde mit 69,8 Prozent abgelehnt. Danach thematisierte SVP-Nationalrat Erich von Siebenthal in den Jahren 2017 und 2019 im Parlament, wie in der Schweiz mit den «ethischen Problemen bei Spätabtreibungen umgegangen wird».
Barbara Haering sieht in diesen Angriffen keine Realpolitik, sondern reine Ideologie. Haering hat an vorderster Front für die legale Abtreibung gekämpft. Vor knapp 30 Jahren reichte sie den Vorstoss für die Fristenregelung im Parlament ein, der später zu dem Gesetz, wie wir es heute kennen, führen sollte. «Damals waren die SVP-Frauen die erste politische Organisation, die unsere Initiative formell unterstützt hat.» Was sie über die Vorstösse aus denselben Kreisen heute denkt, beantwortet Haering mit einem Schulterzucken. «Es zeigt die Entwicklung der SVP auf.»
Lange Zeit war die Abtreibung in der Schweiz illegal. Von 1942 bis 2002 stand im Strafgesetzbuch:
Eine Ausnahme wurde nur gemacht, wenn die Mutter gesundheitlich gefährdet war, was zwei Ärzte bestätigen mussten.
In der Praxis wurde das Gesetz allerdings zusehend verwässert. In liberalen Regionen wie Zürich, Basel-Stadt oder Genf liessen Ärzte viel eher auch psychische oder soziale Notstände als gesundheitliche Gefährdung gelten. Hingegen in konservativen katholischen Kantonen war es Frauen selbst bei Lebensgefahr nicht möglich, abzutreiben.
Mit der Frauenbewegung kam in den 70er- und 80er-Jahren die Forderung auf, dass Abtreibung legal werden soll. Politische Versuche scheiterten und wurden sogar mit Gegeninitiativen wie dem «Recht auf Leben» bekämpft. Das Stimmvolk lehnte die Vorlage mit 69 Prozent ab.
Im Jahr 1993 startete die damalige SP-Nationalrätin Haering einen neuen Versuch, die Abtreibung zu legalisieren. Sie erinnert sich an den Abstimmungskampf. «Es war sehr emotional. Ich erhielt Morddrohungen und wurde beschimpft.» Eine Gruppe christlicher Fundamentalisten, die einen Säugling dabei hatten, seien Haering regelmässig aufgelauert und hätten sie mit Vorwürfen überhäuft.
Auch im Parlament mussten Haering und ihre Unterstützerinnen lange über die Ausgestaltung der Fristenregelung diskutieren. Nachdem die Vorlage neun Jahre lang in den beiden Räten hin- und hergereicht wurde, ergriffen christlich-konservative Gruppen doch noch das Referendum und es kam zur Volksabstimmung.
Das Resultat der Abstimmung hätte nicht deutlicher sein können. Am 2. Juni 2002 sprach sich das Stimmvolk mit 72,2 Prozent Ja-Stimmen für die legale Abtreibung in den ersten zwölf Wochen aus. Zeitgleich schmetterte es ein Verbot mit 81 Prozent Nein-Stimmen ab.
Eine Überraschung für Haering: «Wir haben nicht damit gerechnet, dass die Vorlage so breit angenommen wird.»
Seit 20 Jahren scheint die progressive Haltung zur Abtreibung unverändert. Den Grund sieht Cloé Jans vom gfs.bern in der jahrelangen Entwicklung hin zu einer gleichberechtigteren Gesellschaft. «Frauenrechte einzuschränken, ist aktuell sicher kein Thema», so Jans.
Seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 werde es für Frauen immer selbstverständlicher, ihre Interessen zu vertreten und einzufordern. «Das liegt auch am steigenden Bildungsniveau. Wir haben zurzeit so viele gut ausgebildete Frauen wie noch nie.»
Zudem spiele Religion im Alltag der Bevölkerung eine immer kleinere Rolle. Dies ganz im Gegensatz zu Ländern, in denen Abtreibungsrechte eingeschränkt werden. «Dort ist die Abtreibungsfrage ein extremes Politikum», so Jans. Gerade in den USA werde Parteipolitik stärker über Wertfragen und sehr emotional ausgetragen. Der Diskurs sei in der Schweiz einiges vielseitiger.
Dass heute zwei Frauen der SVP die Abtreibung verschärfen wollen, sieht Jans auch vor dem Hintergrund der nächsten nationalen Wahlen im Herbst 2023. «Es geht in solchen Momenten häufig nicht darum, die Volksinitiative zu gewinnen, sondern ein Thema zu lancieren und sich ins Gespräch zu bringen. Es ist ein gängiges Mittel, um die eigenen Leute zu mobilisieren.»
Yvette Estermann und Andrea Geissbühler haben noch bis im Juni 2023 Zeit, alle nötigen Unterschriften zusammenzubringen. Auch für die politische Gegenseite bleibt das Thema Abtreibung wichtig. Grüne Nationalrätin Léonore Porchet wird am 2. Juni eine parlamentarische Initiative einreichen, die fordert, dass der Schwangerschaftsabbruch künftig nicht mehr im Strafgesetzbuch verankert ist.
So naiv das klingen mag aber Abtreibung ist mMn eine Frage, die sich zwischen Mutter, Vater und behandelnden Arzt stellen sollte. Sie hat nichts mit der Politik und erst recht nichts mit der Kirche zu tun. Man kommt nach einer Abtreibung nicht per sofort in die Hölle und Steuerabzüge gibt es auch keine. Also warum sollten Politiker und Fundis meinem Uterus etwas vorschreiben? Oder das allg. Volk? Plötzlich hat Nachbar Hubert noch Mitspracherecht.