Plötzlich eilt es. Die Gesteinsmasse oberhalb des Bündner Bergdorfes Brienz bewegt sich schneller als erwartet. Die Messungen des ETH-Geologen Stefan Schneider zeigen eine deutliche Beschleunigung. Nicht nur die absolute Geschwindigkeit sei massgebend, sagt Schneider. «Seit Anfang April haben sich die Geschwindigkeiten verdoppelt bis verdreifacht.» Mutmasslich werde die Insel in den nächsten 7 bis 24 Tagen abstürzen oder abrutschen.
Welche Wucht der Felssturz haben wird, weiss niemand so genau. Klar ist hingegen, dass der Moment des Abbruchs unmittelbar bevorsteht. Deshalb gilt seit Dienstag offiziell «Phase Orange»: Die Einwohnerinnen und Einwohner müssen das Dorf bis Freitagabend, 18 Uhr, verlassen. Bereits heute sind die Strassen für Auswärtige gesperrt.
An der kurzfristig anberaumten Information am Dienstagabend in der Turnhalle im nahe gelegenen Tiefencastel erklärt Gemeindepräsident Daniel Albertin, es sei den Verantwortlichen bewusst, dass dieser Entscheid mit sehr viel Emotionen aufgenommen werde. Bereits ab Freitag dürfen die Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr in Brienz übernachten, ab Samstag dürfen sie sich tagsüber zwar noch stundenweise im Dorf aufhalten, aber nur solange es die Gefährdungslage zulässt. Viele haben die Koffer gepackt.
Für die Bevölkerung ist die Situation nicht nur emotional schwierig. Auch organisatorisch stellen sich ganz unterschiedliche Fragen. An der Versammlung will eine Frau wissen, wie nach der Evakuierung die Post zugestellt werde. Eine andere Frau fragt, ob sie künftig weiterhin mit dem Auto zu ihrem Haus fahren kann. Eine dritte Frau fragt, ob das Postauto noch fährt.
Für andere haben finanzielle Aspekte Priorität: Wie können aktuelle Gebäudeschäden versicherungstechnisch angemeldet werden? In manchen Fragen schwingt auch Angst mit: Beschleunigen die aktuellen und kommenden Niederschläge den Rutsch? Oder wie gross ist die Fehlertoleranz der ETH-Geologen?
Die meisten Einwohner kehren am Abend nach der Veranstaltung wieder ins Haus nach Brienz zurück, bevor sie es in drei Tagen auf unbestimmte Zeit verlassen müssen. Damit die Evakuation reibungslos abläuft, hat am Dienstagmorgen die Regierung Graubünden 500'000 Franken für Sofortmassnahmen gesprochen. Um in der Not «keine Details zu wälzen», wie Regierungsrat Martin Bühler erklärt. Die Gemeinde stellt weitere 200'000 Franken für kurzfristige Massnahmen zur Verfügung, beispielsweise für allfällige Hotel- oder Transportkosten.
Das ist ein erster Schritt. Bühler verspricht: «Wir sind daran, massgeschneiderte finanzielle Unterstützungen aufzubauen, falls jemand das Dorf verlassen will.» Auch Finanzierungshilfen in einem weiteren Sinne seien geplant, etwa der Umgang mit Ertragsausfällen der Bauern.
Regierungspräsident Peter Peyer betont, im Moment stehe aber die seelische und physische Gesundheit der Bevölkerung im Vordergrund.
Nur: Nicht alle der gut 85 Bewohner haben bereits eine neue feste Bleibe. Rund 50 Haushalte müssen gemäss Gemeindepräsident Albertin evakuiert werden. Die Behörden bieten an, den Betroffenen bei der Suche zu helfen. Albertin erklärt, das Angebot Freiwilliger stimme ihn zuversichtlich: «Wir haben aktuell sage und schreibe über 38 Wohnungen, die uns Einheimische und Zweitwohnungsbesitzer anmeldeten.»
Für die Zuteilung und Fragen zum neuen Wohnort und der Schule konnten die Betroffenen am Dienstagabend separat in den Schulzimmern in einem intimeren Rahmen ihre Fragen stellen.
Die Evakuation trifft die Gemeinde nicht unerwartet. Seit Jahren steht das Dorf unter Beobachtung, weil sich Gesteinsmassen über und unter dem Dorf bewegen. Noch im Oktober 2021 bestand die Hoffnung, den Rutsch aufzuhalten, indem das Wasser im Berg über einen provisorischen Stollen abgeführt würde. Das Rutschen des Dorfes konnte zwar etwas gebremst werden. Vor einem Monat zeichnete sich dann aber ab, dass der Fels oberhalb des Dorfes abbrechen oder abrutschen wird. Die Behörden riefen die Bevölkerung dazu auf, sich für eine Evakuation bereit zu machen.
Am Freitag hatte die Gemeinde dann «Phase Gelb» ausgerufen: Die Bevölkerung soll die Vorbereitungen für die Evakuierung so schnell wie möglich abschliessen. Damals rechneten die Experten noch mit zwei bis sechs Wochen, bis der Fels abbricht. Und jetzt müssen die Dorfbewohner doch schneller weg.
Bewohnerinnen wirken weder niedergeschmettert noch ängstlich, vielleicht leben sie schon zu lange mit der Gefahr. Stellvertretend für die Gemeinde sagt Priester Federico Pelicon, die Menschen begegneten «dem Ereignis» mit zwei gegensätzlichen Gefühlen. Auf der einen Seite stehe das Ungewisse, die Schwierigkeit, das Zuhause und das Dorf zu verlassen. Gleichzeitig sei aber auch Hoffnung verbreitet, sagt Pelicon, «dass es eben doch nicht so schlimm kommt». Dass das Dorf weitgehend verschont bleibe und die Menschen bald wieder zurück in ihre Häuser können.
Unwahrscheinlich ist das nicht. Auch seitens Behörden besteht die Absicht, dass die Menschen nach dem Felssturz wieder in ihre Häuser zurückkehren - von einer Räumung des Dorfes spricht an diesem Abend niemand. Und die Regierungsrätin Carmelia Maissen will Zuversicht spenden, wenn sie sagt, es sei ihr bewusst, wie belastend die Situation sei. «Umso mehr setzen wir uns dafür ein, die Planungsarbeiten für die Rückkehr voranzutreiben, damit das Leben ins Dorf zurückkehrt.» Doch dafür muss nun zuerst der Fels abbrechen. (aargauerzeitung.ch)
Was haben die denn die ganze Zeit gemacht? Und was haben sie erwartet? Dass jemand dann schon für sie das Problem lösen wird?