Auf den Tag genau vor fünf Wochen mussten die 84 Bewohnerinnen und Bewohner von Brienz ihre Heimat verlassen und auf unbestimmte Zeit in eine neue Bleibe ziehen. Lange geschah am Berg nur wenig. Zwar polterten immer mal wieder grössere Felsbrocken und Gestein ins Tal. Doch ein grösseres Schadenereignis blieb aus.
Dann ging es plötzlich schnell. Im Verlauf des Donnerstags hat sich die Geschwindigkeit, mit der sich die Insel bewegte, verzehnfacht. Noch bevor die Gemeinde Albula, zu der das Bergdorf Brienz gehört, am späten Donnerstagabend die höchste Gefahrenstufe - Phase Blau - ausrief, ist «ein grosser Teil der Insel sehr schnell abgerutscht», wie die Gemeinde in einem Bulletin schreibt. Bei der Insel handelt es sich um den oberen, kritischen Teil des Berghangs ob Brienz.
Wie viele der erwarteten knapp zwei Millionen Kubikmeter Gestein über Nacht ins Tal donnerten, ist noch nicht abschliessend bekannt. Doch: «Erste Bildauswertungen zeigen eine deutliche Veränderung der Hangoberfläche und lassen darauf schliessen, dass das Ereignis einen grossen Teil der Insel betroffen hat», schreibt die Gemeinde weiter.
#InfoGFS: In der Nacht ist ein grosser Teil der #Insel Richtung Brienz/Brinzauls abgegangen. Die Felsmassen verfehlten das Dorf nur knapp: Auf der Kantonsstrasse beim Schulhaus hinterliessen sie eine meterhohe Ablagerung. #BrienzerRutsch #GlückGehabt pic.twitter.com/yedkdjPiKa
— Gemeinde Albula/Alvra (@AlbulaAlvra) June 16, 2023
Die Felsmassen haben das Dorf «nur haarscharf» verfehlt. Gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA teilte Mediensprecher Christian Gartmann mit, dass sich die Felsmassen des Schuttstroms teilweise um bis zu 12 Meter aufgetürmt hätten. Diese Schutthalde reicht bis nahe zum Dorf: So hat sich etwa direkt vor dem Schulhaus eine meterhohe Ablagerung gebildet. Am Berg hat der abgerutschte Teil eine tiefe Furche hinterlassen.
Noch kann nicht festgestellt werden, ob die Gefahr gebannt ist und kein weiterer grosser Abgang zu erwarten ist: «Ich würde aber bezweifeln, dass die gesamte Insel heruntergekommen ist», sagte Gartmann gegenüber Radio SRF. Es sei sicher noch ein Teil oben.
Wie stabil dieser Teil sei, müsse man zuerst prüfen und dann schauen, ob von ihm noch Gefahr für das Dorf ausgehe - also ob daraus Felsstürze oder sogar ein Bergsturz entstehen könnte. «Das werden die Geologen und Naturgefahrenexperten in den nächsten Stunden und Tagen feststellen und eine neue Sicherheitsbeurteilung vornehmen.» Sie werden bereits am Freitag mit einem Helikopter das Gebiet überfliegen und das Ausmass der Schuttlawine beurteilen.
Die Mitglieder des Gemeindeführungsstabs haben eine schlaflose Nacht hinter sich: Sie kamen noch in der Nacht auf Freitag für zwei Sitzungen zusammen. Zwar habe man wegen der Dunkelheit den Berg nicht beobachten können, doch es sei laut gewesen. Man habe gehört, dass etwas im Gang sei, so Gartmann. Wie sich der Hang verändert hat, zeigt der folgende Bildvergleich.
Wann die Bevölkerung wieder in ihre Häuser im Albulatal zurückkehren kann, ist derzeit noch völlig unklar, wie Gartmann gegenüber SRF sagt: «Wenn Leute im Dorf leben, übernachten und Kinder draussen spielen sollen, dann muss es wirklich sicher sein. Bevor Brienz nicht sicher ist, kann Brienz nicht wieder bewohnt werden.»
Ebenfalls schwer zu sagen ist, wie lange die Verkehrsverbindungen noch gesperrt sind. Man werde sie nur so lange gesperrt lassen, wie die Sicherheit das verlange. Seit Beginn der Phase Blau um Mitternacht sind aus Sicherheitsgründen die Kantonsstrassen zwischen Tiefencastel und Surava sowie zwischen Tiefencastel und Vazerol/Lenzerheide gesperrt. Auch die Albulalinie der Rhätischen Bahn zwischen Tiefencastel und Filisur musste eingestellt werden.