Es ist eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Geschichte: Zwischen 1926 und 1972 entrissen Organisationen und Behörden schätzungsweise 2000 Kinder ihren Familien. Aus dem einfachen Grund, weil ihre Eltern Jenische und Sinti waren. Oder «Zigeuner», wie man sie damals noch abwertend nannte.
Am stärksten ging die Stiftung Pro Juventute mit dem Projekt «Hilfswerk der Kinder der Landstrasse» gegen die Minderheit vor. Über 600 Zwangsassimilierungen führte sie durch – mit der Hilfe staatlicher Behörden und Geldern des Bundes.
In einem offenen Brief an Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider fordern jenische Organisationen nun, dass die Schweiz die Aktion «Kinder der Landstrasse» offiziell als kulturellen Völkermord verurteilt.
«Bei dieser Forderung geht es um Genugtuung und die Anerkennung des Leids, das die Schweiz uns angetan hat», sagt Daniel Huber zu watson. Er ist Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse (Dachorganisation der schweizerischen Jenischen und Sinti), die den offenen Brief mitunterschrieben. Und Huber fügt an:
Unter dem Deckmantel des «Kindeswohls» platzierte das «Hilfswerk der Kinder der Landstrasse» während 46 Jahren jenische Kinder gegen den Willen ihrer Eltern in Heimen, Bauernfamilien, nicht-jenischen Adoptivfamilien der Ober- und Mittelschicht und sogar in Psychiatrien. An diesen Orten erlebten die Kinder häufig psychische, physische und sexuelle Gewalt.
Den Kindern war jeglicher Kontakt zu ihren Eltern, Geschwistern und sonstigen Verwandten untersagt. Die jenische Sprache durften sie nicht sprechen. Häufig erhielten die entrissenen Kinder zudem neue, nicht-jenische Namen. Das erschwerte es den Eltern zusätzlich, ihre Kinder wiederzufinden. Genauso wie die ständigen Umplatzierungen, welche das «Hilfswerk» vornahm.
Der Schweizer Historiker Thomas Huonker war massgeblich an der Aufarbeitung von «Kinder der Landstrasse» beteiligt. 2012 schrieb er in einem Artikel:
Das eigentliche erklärte Ziel des Projekts war es, die Kinder von ihrer «Vagantität» zu «befreien». Oder wie Huonker schreibt: die «Beseitigung der jenischen Minderheit». Seine Legitimation fand das Projekt in rassenhygienischen Theorien, die Anfang des 20. Jahrhunderts in ganz Europa aufkamen und auch den Nazis als vermeintlich wissenschaftliche Legitimation für den Holocaust dienten. Die Verantwortlichen der «Kinder der Landstrasse» versuchten darum auch systematisch, die Geburtenrate von Jenischen zu senken, indem sie Eheverbote aussprachen und Zwangssterilisationen anordneten.
1973 fand das Projekt jedoch sein abruptes Ende, als der «Beobachter» die grausamen Praktiken des «Hilfswerks» publik machte.
Heute leben in der Schweiz gemäss Zahlen des Bundesamts für Kultur etwa 30'000 Jenische. Davon pflegen nur noch etwa 2000 bis 3000 Personen eine nomadische Lebensweise. Die Mehrheit ist heute also sesshaft. Auch aufgrund ihrer systematischen Verfolgung.
Daniel Huber von der Radgenossenschaft der Landstrasse hält fest, dass Jenische in der Schweiz noch immer direkt und indirekt an den Folgen des Projekts «Kinder der Landstrasse» leiden.
Viele Eltern starben, ohne ihre Kinder je wiedergesehen zu haben. «Und die Kinder, die damals ihren Familien entrissen wurden, suchen noch heute nach ihren Geschwistern, Eltern – nach ihrer Identität», sagt Huber. Die jenische Sprache sei unterdrückt, ihre Lebensweise verboten worden und daraufhin zu grossen Teilen verloren gegangen. Huber sagt:
Huber spricht von einer «geschädigten Kultur». Das Projekt «Kinder der Landstrasse» könnte man allerdings auch als einen Angriff auf eine Volksgruppe verstehen, mit der Absicht, sie kulturell ganz auszulöschen. So argumentierte zumindest die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus 2022 in einem Interview mit dem «Beobachter»:
Aus Capus' Sicht ist das kultureller Genozid.
Eine international gültige Definition von «kulturellem Genozid» gibt es zwar nicht. «Aber laut Konventionstext der UNO handelt es sich auch dann um einen Völkermord, wenn man ‹Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt oder überführen lässt›. Also genau das, was im Fall der ‹Kinder der Landstrasse› passiert ist», sagte Capus.
Die jenischen Organisationen beziehen sich in ihrem offenen Brief darum auf Capus. Der Bund habe seine Beteiligung an «Kinder der Landstrasse» grundsätzlich anerkannt, habe den Opfern limitierte Entschädigungen zugesprochen, historische Untersuchungen in Auftrag gegeben. Aber eines sei nicht getan worden, schreiben die Organisationen:
Eine offizielle Entschuldigung des Bundes und die Anerkennung des kulturellen Genozids an Jenischen sei «das Minimum an Respekt und Anstand gegenüber Jenischen und Sinti», den Jenische von der Schweiz verlangten, so Huber.